Die Liebe atmen lassen
wird, eine gelegentliche Unzuverlässigkeit nicht gänzlich aus dem Rahmen fällt. Die kleine Unwahrheit, die der gewöhnlichen Polarität des Lebens zuzurechnen ist, stellt die Beziehung nicht mehr von Grund auf in Frage. Worte und Taten müssen sich nichtmehr immer »eins zu eins« entsprechen. Und Ärger, gewöhnlich den Beziehungen des Misstrauens zugerechnet, findet endlich auch in vertrauensvollen Beziehungen den Platz, der ihm zusteht.
Und wenn es Ärger gibt?
Die alltägliche Polarität von Gefühlen
Die Freude an einem Menschen und an der Beziehung zu ihm ist gut zu bewältigen, vom Ärger lässt sich das nicht immer sagen. Und doch sind Freude und Ärger Teil der Polarität, die sich im gesamten Leben als unvermeidlich erweist, keine Beziehung kommt ohne sie aus. Eine verneinende Beziehung lebt vom Ärger, eine bejahende wird von ihm auf die Probe gestellt, beginnend mit der Verstimmung, wie vor allem Liebende sie kennen, da sie am empfindlichsten sind. Für eine verlässliche Quelle von Ärger, meist zärtlich gepflegt, sorgt das Verhältnis der Geschlechter zueinander, und umso reicher scheint diese Quelle zu sprudeln, je weiter die Beziehung sich zeitlich und auch in sonstiger Hinsicht von ihren Ursprüngen entfernt hat: Die Art, wie der Andere beim Lachen die Zähne entblößt, wirkt unschön. Seine Kleidung ist falsch gewählt, mal wieder. Das Wort, das er an mich richtet, ist missverständlich. Spreche ich, ist er absichtlich schwer von Begriff und gibt Widerworte. Stets will er auf etwas Anderes hinaus als ich, äußert abweichende Meinungen, macht andere Vorstellungen geltend, lässt abartige Vorlieben erkennen, pflegt sonderbare Gewohnheiten, erzählt immer dieselben Geschichten, und seine Vergesslichkeit ist notorisch. Immer macht er alles falsch und befindet sich auf dem Weg zum ewigen »Opfer«, während ich zuverlässig alles richtig mache, kaum nochaufzuhalten auf dem Weg zur Perfektion. Lässt das auf das drohende Ende einer Beziehung schließen? Nicht unbedingt. Nur auf das Bedürfnis nach Ärger.
Woher kommt dieses Bedürfnis? Auffällig ist zunächst, mit welcher Hartnäckigkeit sich der Ärger behauptet, unabhängig von seinem aktuellen Grund. Ganz von selbst stellt er sich ein, und darauf, wie er sich zur Not »vom Zaun brechen« lässt, versteht jede und jeder sich von Kindesbeinen an. Ärger entsteht, auch sprachlich, wenn einem Menschen Arges , Schlechtes, Schlimmes zugefügt wird, etwa weil er meiner freien Bewegung und Entfaltung im Weg steht, mich nicht gebührend beachtet, meine Bedürfnisse ignoriert, auf meine Machtsphäre übergreift, mir Privilegien entzieht, meine Lust untergräbt, meine Erwartungen enttäuscht, Abmachungen, Regeln, Werte missachtet. Ich fühle mich abgewertet, lächerlich gemacht, beleidigt, gekränkt, gedemütigt. Ist die Entstehungsgeschichte klar, lässt sich daran arbeiten, den jeweils aktuellen Ärger »abzustellen«. Aber dessen Gründe haben die Gestalt einer Hydra: Kaum ist einer aus der Welt geschafft, sind schon wieder andere da.
Denn der eigentliche Grund für Ärger ist ontologischer Natur und erweist sich als Abgrund zwischen den Seinsweisen von Wirklichkeit und Möglichkeit: Ein wirkliches Verhalten entspricht nicht den erwünschten Möglichkeiten, ein Vergleich realer Verhältnisse mit idealen Vorstellungen fällt frustrierend aus: »Etwas ist nicht so, wie es sein sollte« (Hannelore Weber, Ärger , 1994). Verspüren Menschen das Bedürfnis nach Ärger, versuchen sie die Wirklichkeit zu sprengen, die den vorgestellten Möglichkeiten nicht entspricht: Sie verschaffen sich Luft mit ihrem Ärger. Oder sie trachten danach, entschwebende Möglichkeiten auf den Boden der Wirklichkeitzurückzuholen: Ärger erdet. Der Ärger, den ich Anderen bereite, dient dazu, meine Vorstellungen ins Spiel zu bringen und Andere zu ihrer Verwirklichung zu veranlassen. Mit dem Ärger, den Andere mir bereiten, bringen sie ihre Vorstellungen ins Spiel und drängen mich zu ihrer Verwirklichung. Variabel an dieser Konstellation ist die Schwelle der Empfindlichkeit, die individuell angehoben oder abgesenkt werden kann: Mit ihr lässt sich die Diskrepanz von Sosein und Sollen regulieren, die nicht immer dieselbe bleiben muss.
Um auf seine Entstehung besser antworten zu können, erscheint es sinnvoll, sich die Mechanik des Ärgers zu vergegenwärtigen. Regelmäßig folgt er, gänzlich unverstanden, auf exzessive Erfahrungen. Derjenige, der Ärger macht, zieht sich den
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