Die Liebe atmen lassen
füreinander, die kleine Geste zweier, die von Grund auf Gefallen aneinander haben, miteinander vertraut sind, sich beieinander geborgen fühlen. Die ganze Fülle des Menschseins scheint sich in ihnen zu versammeln, eine weitergehende Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich nicht mehr. Demgegenüber zwei, die sich lange genug, allzu lange kennen, aufeinander losgehen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Rache aneinander nehmen: Kaum etwas ist so hässlich anzusehen. Der unbeteiligte Dritte ist versucht, ihnen zur Trennung zu raten, damit sie sich in der Distanz schätzen lernen oder allein für sich besser leben können. In der Lieblosigkeit ihres Umgangs miteinander ist keine Fülle erkennbar, nur gähnende Leere und Sinnlosigkeit.
Allein oder zu zweit? Das ist die Frage, die jede und jeder für sich zu entscheiden hat, nicht nur vorweg oder an der Schwelle zu einer Beziehung, sondern auch in ihr, und nicht etwa ein für alle Mal, sondern von Phase zu Phase von Neuem. Dem Hin- und Hergerissensein dazwischen ist jedenfalls in moderner Zeit kaum zu entkommen, die das Alleinleben sozial und ökonomisch erst ermöglicht hat, während in vormoderner Zeit das Leben als Paar und in Familie verpflichtende Norm und Notwendigkeit war; für die, die »übrig blieben«, stellte das Alleinsein eine prekäre Lebensform dar. Die Möglichkeit,wählen zu können , bringt die neue Notwendigkeit mit sich, auch wählen zu müssen , und jede Wahl zieht Konsequenzen nach sich, die kaum auszuhalten sind: In der Zweisamkeit erscheinen die damit verbundenen Einschränkungen der Freiheit irgendwann schwer erträglich. Beim Alleinsein wird vielleicht der Zustand der Freiheit irgendwann als leer empfunden. Wird die Freiheit wieder gegen eine Bindung eingetauscht, beginnt das Spiel von vorne. Eine wachsende Zahl von Menschen kennt den tragischen Zwiespalt zwischen dem Alleinleben, das auf Dauer zur Last fällt, und dem Zusammenleben, das auf Dauer zu schwierig ist: »Ohne dich will ich nicht, / mit dir kann ich nicht sein« (Element of Crime, Titelsong zum Film Wie Robert Zimmermann sich die Liebe vorstellt , Regie Leander Haußmann, Deutschland 2008). Die innere Zerrissenheit kann das Leben unmöglich machen. »Ich kann nicht allein sein. Ich kann nicht mit anderen sein«: So stellte die Dramatikerin Sarah Kane die Tragik der modernen Freiheitserfahrung 1999 in ihrem Stück Psychosis 4 . 48 dar, bevor sie selbst in der Selbsttötung die Lösung suchte.
Kann man dem Dilemma jemals entrinnen? Gründe sind gegeneinander abzuwägen. Allein zu leben scheint den Vorzug der Freiheit zu haben und dem Autonomieanspruch des modernen Individuums am besten gerecht zu werden: Ich kann meinen eigenen Stil »durchziehen« und über mein Leben im Ganzen und in allen Details weitgehend selbst bestimmen, ohne unentwegt Kompromisse machen und mich von einem Anderen korrigieren lassen zu müssen. Niemandem bin ich Rechenschaft schuldig über mein Kommen und Gehen, kann ganz dem eigenen Rhythmus, den eigenen Interessen und Neigungen folgen, die nicht zugunsten eines Anderen zurückgestellt werden müssen. Zwar muss ich die Wohltatentbehren, nach einem anstrengenden Tag in die Wohnung zurückzukehren, die ein Anderer schon wärmt, aber die Rückkehr zieht auch keine anstrengenden Auseinandersetzungen nach sich. Das Alleinleben erspart all den Ärger, den das Zusammenleben zwangsläufig mit sich bringt, und gewährt mir die Erfüllung des sehnlichen Wunsches, »endlich meine Ruhe zu haben«. Auch mehr Spontaneität ist möglich, mehr Flexibilität ohne den ständigen Zwang zur Rücksichtnahme auf die Gefühle des Anderen, ohne Ängste vor Krach und Trennung bei Zuwiderhandlung. Ungehemmt von der Gebundenheit an ihn und der Verantwortung für ihn, entsteht ein weites, weiträumig bewegliches Selbst, das den Beweis erbringt, dass ein Leben ohne Liebe möglich ist, zumindest ohne herkömmliche Liebesbeziehung. Für den erforderlichen Sinn sorgen intensive Freundschaften und andere Arten von Liebe zu Menschen, Wesen und Dingen. Mit dem Gefühl, eins mit allem sein zu können, ungestört von den Kleinlichkeiten des Lebens zu zweit, kann sogar eine Erfahrung von Unendlichkeit entstehen.
Aber mit sich allein zu leben will gekonnt sein, es versteht sich so wenig von selbst wie das Zusammenleben. Unversehens kann aus dem Vorzug auch ein Nachteil der Freiheit werden: »Endlich kann ich machen, was ich will, aber was will ich eigentlich?« Es kostet sehr viel Kraft,
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