Die Liebe atmen lassen
handelt es sich um eine Zwangsgemeinschaft . Aber schwierig ist nicht etwa nur die als Zwang empfundene Beziehung: Das Leben wird grundsätzlich komplexer, mithin komplizierter, wenn mehr als einer es lebt, und das steigert sich noch, wenn nichts am Zusammenleben mehr traditionell, konventionell oder religiös festgelegt ist, alles individuell neu ausgehandelt werden muss, aber keiner weiß, wie das geht. Die Schwierigkeiten kulminieren im Alltag, mit dessen Organisation und Koordination jede Beziehung konfrontiert ist. Eine mögliche Rangliste der Schwierigkeiten des Lebens würde als das Schwierigste zu allen Zeiten zweifellos das Zurechtkommen mit Krieg, Krankheit, Schmerz, Leid und Tod ausweisen, als das Zweitschwierigste in moderner Zeit jedoch bereits das Zusammenleben im Alltag, eine der anspruchsvollsten Aufgaben, denen Menschen sich im Leben überhaupt stellen können. Das Drittschwierigste könnte die Kindererziehung sein, das Viertschwierigste das Alleinsein mit sich, aber die Bewertung ist abhängig von der natürlichen Veranlagung, kulturellen Prägung, individuellen Haltung des Einzelnen.
Allein oder zu zweit? Theoretisch ist die Frage unentscheidbar, praktisch muss sie dennoch entschieden werden. Sinnvoll erscheint, beide Lebensformen auszuprobieren, um mit größerer Freiheit wählen zu können und nicht einer bloßen Notwendigkeit folgen zu müssen. Mit dem Schwinden derVorgaben, wie zu leben sei, wird das Leben und Beziehungsleben ohnehin zum experimentellen Leben . Letztlich ist die Freiheit zum Experiment nicht um ihrer selbst willen da, sondern zur möglichst vielfältigen Entwicklung von Variationen, mit denen die Evolution des Lebens arbeiten kann. Experimente erkunden die Möglichkeiten des Lebens, denn niemand kann wirklich im Voraus wissen, was möglich ist und was nicht. Ist nicht jeder Einzelne selbst schon ein Experiment, das die Natur mit ihm anstellt? So lässt sich auch das Leben zu zweit verstehen, und es erscheint reizvoll, dem Experiment willentlich noch deutlichere Konturen zu geben. Der Mensch ist ein Versuchstier, aber eines von besonderer Art: Er selbst kann dem Leben die Variationen anbieten, die dessen Evolution förderlich sein können. In Gang gebracht wird ein jedes Experiment mit einer eigenen Wahl , begründet oder grundlos, reflektiert oder nicht. Zu wählen ist jedoch bereits die Art der Wahl , denn nicht nur aktiv , sondern auch passiv kann gewählt werden, um etwas mit sich geschehen zu lassen, es dem Zufall oder Schicksal zu überlassen, was wirklich werden soll, verbunden mit der Bereitschaft, das, was sich ergibt, auch hinzunehmen. Möglich ist zudem, einen Anderen, falls es ihn schon gibt, wählen zu lassen und sich seiner Wahl anzuschließen; womöglich auch herkömmliche Formen des Lebens zu zweit aus freien Stücken wieder aufleben zu lassen und auf verfügbare Alternativen zu verzichten. Aber selbst das Kriterium ist zu wählen, anhand dessen die fraglichen Lebensformen beurteilt werden sollen: Etwa das schöne Leben , das bejahenswert erscheint, da es den Gegebenheiten der Beteiligten am besten entspricht und ihre Möglichkeiten zur Entfaltung bringt, mit allen erfreulichen und weniger erfreulichen Seiten. Das Bewusstsein, ein schönes Leben führen zu können, auch schondie Aussicht darauf, setzt am ehesten die Kräfte frei, selbst größte Schwierigkeiten durchstehen zu können.
Neben den Alternativen in reiner Form, allein oder zu zweit, frei oder gebunden , können von vornherein Zwischenformen ins Auge gefasst werden. Nicht nur die Bindung in Form von leidenschaftlicher Liebe , die wohl die meisten Einbußen an Freiheit mit sich bringt, ist möglich, sondern auch die freundschaftliche Liebe , die mit weniger heftigen Gefühlen mehr Spielräume der Freiheit in der Bindung zu realisieren versucht. Auch in der kooperativen Liebe können die Beteiligten ein freieres Verständnis von Bindung verwirklichen und Formen von kollegialem Verhalten zur Grundlage ihrer »Partnerschaft« machen, die zwar an die nüchterne Beziehung von Geschäftspartnern denken lässt, im Laufe der Zeit jedoch zu einer innigen Art von Liebe werden kann. In einer funktionalen Liebe wiederum liegt es nahe, die Verteilung der Rollen und die Erfüllung der entsprechenden Funktionen in stillem Einverständnis oder ausdrücklich per Vertrag festzulegen, bei Nichteinhaltung Trennung. Sehr viel mehr Bindung, aber geringere Freiheitsspielräume bietet die agonale Liebe , bei der die
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