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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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stets und ohne Unterlass selbst wählen und bestimmen zu müssen, statt sich zumindest zum Teil von einem Anderen bestimmen lassen zu können. Und schon das zeitweilige Alleinsein hält die merkwürdige Erfahrung bereit, sich nicht mehr zu spüren , als könnte die Leichtigkeit des Seins dazu führen, sich spurlos im Nichts zu verlieren. Das haltende Netz löst sich auf, das die Beziehung zum Anderen knüpft, die sonst so wohltuende Ruhe fällt plötzlichzur Last, und da auch der gelegentliche Ärger mit dem Anderen als negativer Gegenhalt ausfällt, kann die Polarität des Lebens nicht mehr auf das Verhältnis zu ihm projiziert werden, sondern muss im eigenen Inneren ausgehalten werden. Ungehemmt wachsen Triebe, die niemand mehr zurückstutzt, und Schrullen, die die Begegnung mit Anderen erschweren. Niemandem Rechenschaft schuldig zu sein, heißt auch: Niemand interessiert sich für mein Tun und Lassen, erst recht dann nicht, wenn das Leben ernst und schwer wird, zu viel zu tragen für einen allein. Es mangelt am Gefühl der Geborgenheit, an der Nähe der Intimität, die sich aus der Vertrautheit des lange währenden Umgangs mit einem Anderen ergibt. Das Leben mit sich selbst kennt seine eigenen Ekstasen und wird doch sehr eng, wenn die Gedanken und Gefühle nur noch in sich selbst kreisen. Die Vervielfältigung wettzumachen, die das eigene Leben durch das Mitleben mit einem Anderen erfährt, und anderweitig den Sinn zu suchen, den der starke Zusammenhang zwischen zweien scheinbar mühelos erzeugt, kann mühsam sein (Jutta Stich, Alleinleben – Chance oder Defizit , 2002).
    Das Leben zu zweit scheint demgegenüber den Vorzug der Bindung zu haben und kann mit einer Fülle von Sinnlichkeit, mit der Wechselseitigkeit von Gefühlen und dem Austausch von Gedanken ein Vollgefühl der Existenz vermitteln, vor allem dann, wenn einer den Eindruck hat, seiner anderen Hälfte begegnet zu sein, die das Menschsein erst abrundet, ganz wie im Mythos des Aristophanes in Platons Symposion . Die Präsenz des Anderen sorgt für eine Schwerkraft, die im Gegenzug dem Selbst dazu verhilft, sich selbst zu spüren , und es ist der Andere, der die Existenz des Selbst bezeugt: Sie scheint erst wahr zu werden, wenn er mich sieht, von meinenErfahrungen hört, sie reflektiert und kommentiert, so wie ich meinerseits die Existenz des Anderen bezeuge und bewahrheite. Das ist der tiefere Grund der Beziehung zum Anderen, des Festhaltens an ihm über alle Irritationen hinweg: Sich zu spüren und Wahrheit zu gewinnen, damit nicht mehr in Frage steht, ob ich lebe und wer ich bin. Die enger werdende Bindung ermöglicht, mit verteilten Rollen die Polarität des Lebens stets von Neuem durchspielen zu können und das Leben nicht mehr allein bewältigen zu müssen. Der Andere kann behilflich sein bei der materiellen Versorgung, die er mitverantwortet oder ganz übernimmt, und beim sozialen Aufstieg, vielleicht in Erwartung einer Gegenleistung auf anderen Ebenen. Tauschverhältnisse können begründet werden, die anrüchig erscheinen mögen: Karriere gegen Gefühle, Versorgung gegen Sex, aber zu entscheiden haben darüber nur die beiden, die es angeht; nur sie befinden darüber, ob es Liebe ist. Wenn sie, obwohl sie anders könnten, aus freien Stücken eine verlässliche Bindung zueinander eingehen und gegen alle Widrigkeiten behaupten, bilden sie eine Wahlgemeinschaft . Sinn ergibt sich für sie aus der Intensität der Bindung und der Erfahrung von Unendlichkeit im Einssein mit dem Anderen, wenngleich nicht jeden Tag und auch nicht jede Nacht.
    In gleicher Weise wie beim Alleinsein gilt es jedoch, keine Illusionen über das Leben zu zweit zu hegen: Aus dem Vorzug kann ein Nachteil der Bindung werden, und wenn solche Einbußen an Freiheit damit einhergehen, dass ein erdrückendes Gefühl des Eingesperrtseins die Folge ist, bleibt von romantischer Einheit und »Ganzheit« keine Spur. Schon die bloße Anwesenheit des Anderen kann zum Ärgernis werden, zeitweilig oder dauerhaft, denn sie verändert alles: Sich allein oder mit ihm gemeinsam in der Wohnung aufzuhalten,allein oder mit ihm auf Reisen zu gehen, macht einen empfindlichen Unterschied, und irgendwann erscheint das Leben mit ihm, das anfänglich so wohltuend und beglückend war, nur noch schwierig und unerträglich; das Alleinleben wird zur Verheißung. Leben beide zusammen, weil sie aufeinander angewiesen sind und nicht anders können, sodass an ein wirkliches Alleinleben nicht zu denken ist, dann

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