Die Liebe atmen lassen
an Bedeutung, wenn es wertgeschätzt wird, seien es Sachen, Erlebnisse, Meinungen oder Vorlieben, vor allem aber gilt dies für die Eigenheiten eines Menschen. Zwar bedarf der Andere nicht erst meiner Wertschätzung, um wertvoll zu sein, denn ihm ist, wie mir selbst, ein innewohnender ( intrinsischer ) Wert eigen, aber der von mir, von außen kommende ( extrinsische ) Akt der Wertschätzung führt auch zur Anerkennung des Werts und zu einem entsprechenden Verhalten im Lebensvollzug, die anderen Seiten des Anderen mit einbezogen – ganz so, wie ich mir dies von ihm auch für mich selbst erhoffe. Über die Ethik des Einzelnen hinaus wird auf diese Weise eine Wechselseitigkeit der Wertschätzung möglich, sei es aus Gründen der Zuwendung und Zuneigung zum Anderen oder aus dem eigenen Interesse heraus, dieselbe Wertschätzung auch von ihm zu erfahren.
Ausgehend vom individuellen Schönen und der entsprechenden Wertschätzung kann dann eine Klärung des gemeinsamen Schönen unternommen werden, um zu Werten zu gelangen, die beide als verbindlich anerkennen können. Das gemeinsam Bejahenswerte ausfindig zu machen: Das ist der Sinn einer kommunikativen Ethik. Ist es für beide bejahenswert, Abwertung, Demütigung, Gewaltanwendung im Umgang miteinander auszuschließen (in selteneren Fällen ausdrücklich einzuschließen)? Dann ergibt sich daraus ein Maßstab für das Verhalten zueinander, um Werte nicht nur zu proklamieren, sondern auch zu realisieren. Für die Ethik der Liebe , auf die zwei sich einigen, führt das zum Grundsatz, den jeweils Anderen als eigenständiges Subjekt zu achten und ihn nicht gegen seinen Willen zum bloßen Objekt zu machen. Zum bloßen Objekt würde er beispielsweise, wenn er nur der Befriedigung des Selbst diente, sein eigener Wert hingegen, seine Wünsche, Bedürfnisse und Entscheidungen, Gedanken und Gefühle, womöglich auch seine körperliche Integrität missachtet würden und das Selbst unbedingt für ihn entscheiden wollte, obwohl er selbst anders oder gar nicht entscheiden will. Dass Verletzungen der Werte in Beziehungen trotz allem geschehen, macht sie nicht überflüssig: Die Ethik der Liebe bewahrt sie, damit wieder zu ihnen zurückgekehrt werden kann. Und wenn es keine Rückkehr gibt? Dann kann das ein Grund sein, die Beziehung in Frage zu stellen. So wird die Ethik der Liebe in Kraft gesetzt, und sie behält ihre Gültigkeit, solange beide sich an sie binden. Beide arbeiten damit an einer Ästhetik der Existenz , um ihrem Leben die Form zu geben, die die »schönstmögliche« ist (Michel Foucault, »Die Sorge um die Wahrheit«, Gespräch, 1984), und ihr Leben so zu gestalten, dass es jedenfalls in ihren eigenen Augen voll und ganz bejaht werden kann.
Wenn aber nichts mehr schön und bejahenswert erscheint, löst die Wertschätzung sich wieder auf: Aus der ursprünglichen Wertschätzung wird eine Geringschätzung , aus der Aufwertung eine Abwertung des Anderen, die damit einhergeht, ihm keine große Bedeutung mehr zuzumessen. Die Schönheit, die dem Anderen zuerkannt wurde, wird ihm wieder aberkannt, und erneut erscheint dies nicht als subjektiver , sondern als objektiver Vorgang: Er erscheint nicht etwa nur so, sondern er ist nicht mehr schön. So großzügig ein Mensch sich zeigen kann, wenn er einen Anderen schön und bejahenswert findet, so kleinlich wird er nun, wenn er nichts Schönes mehr an ihm entdecken kann. Aber ganz so, wie die Bejahung schön macht, macht dieVerneinung hässlich , sowohl den, der verneint wird, als auch den, der verneint. In Blicken und hässlichen Bemerkungen, deren Grund zunächst unverstanden bleibt, bricht das hervor; viele Gesten und Verhaltensweisen sind nicht nur subtile Medien der Wertschätzung, sondern auch des Mangels daran: Sie erlauben feinste Dosierungen, um Zuwendung und Zuneigung zu zeigen, aber auch Abwendung und Abneigung deutlich zu machen. Aus der Hässlichkeit wird letztlich Hass , aus dem Kleinkrieg mit Nadelstichen ein Krieg mit Waffen ganz anderen Kalibers, die über kurz oder lang die Beziehung zerstören. Alles kann vernichtet werden, wenn einer Sache, einem Erleben und erst recht einem Menschen jeglicher Wert abgesprochen wird, und es ist schwer für den Betroffenen, eine eigene Wertschätzung gegen diese Entwertung zu behaupten.
Was für ein Glück, dass der Kampf um Wertschätzung , gegen Abwertung und Entwertung gewöhnlich weniger problematisch ausfällt! Und doch stellt er keineswegs eine Ausnahmesituation dar, sondern
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