Die Liebe atmen lassen
trügerischer Schönheit hervorgerufene Liebe noch wahr sein kann. Nur wahre Liebe kann im Gegenzug Menschen wahrhaft schön machen.
2. Die Liebe macht schön . Das zeigt sich bereits am Liebenden selbst, der durch die Zuwendung und Zuneigung zum Anderen, das Ja zu ihm, selbst bejahenswert wird und an Schönheit gewinnt, oft nicht nur subjektiv in den eigenen Augen, sondern auch intersubjektiv in den Augen Anderer. Das gilt erst recht für den geliebten Anderen, der in der Zuwendung und Zuneigung, die sich auf ihn richtet, erstrahlt und schön erscheint, und so hinreißend ist diese subjektive Schönheit in den Augen des Liebenden, dass sie geradezu objektive Qualität gewinnt und das Perspektivische daran ganz außer Blick gerät: Der Andere ist schön und erscheint nicht etwa nur so, ebenso das Leben mit ihm und überhaupt das gesamte Leben und alle Welt. Was im Grunde die eigene Bejahung ist, wird im Anderen zu einem anschaubaren Ja aus Fleisch und Blut. Was da vor sich geht, bezeichnete Stendhal ( Über die Liebe , 1822) als Prozess der Kristallisation , bei dem in der Wahrnehmung eines Menschen phantastische Möglichkeiten um eine banale Wirklichkeit herum angehäuft werden, die wie Schneekristalle im Winter einen kahlen Zweig erglitzern lassen. Grundsätzlich ist dieser Prozess der Verzauberung auch umkehrbar: Die Entzauberung zeigt mit dem Schwinden der Schönheit dasEntschwinden der Liebe an; die Energien, die von der Bejahung freigesetzt worden sind, ziehen sich zurück, bis sich beim einstmals Geliebten alle Ausstrahlung auflöst.
Immer dann jedoch, wenn etwas oder jemand bejaht werden kann, durchströmen Energien den Bejahenden ebenso wie das Bejahte oder den Bejahten, und dringen von innen her aus allen Poren nach außen, sodass die Schönheit sichtbar wird. Der Prozess scheint nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch wirklich zu geschehen: Gleichsam mühelos arbeitet die Liebe an der Schönheit, die äußerlich in den Augen und Gesichtern, in Haltung und Verhalten, innerlich in Gefühlen und Gedanken der Liebenden zum Vorschein kommt, in einer unvermuteten Fühlsamkeit, einem bezaubernden Charakterzug, einem überwältigenden Gedankenreichtum, ermutigt vom wohlwollenden Blick und liebevollen Interesse des jeweils Anderen. Das Schöne wird sichtbar im Lächeln, das selbst im Ernst noch durchscheint, denn es ist das Lächeln einer Gewissheit, die alle Ungewissheit überstrahlt: Bejaht zu sein, nicht nur vom Anderen, sondern, so das subjektive Empfinden, vom gesamten Leben, von aller Welt. Ist diese Schönheit ungerecht, weil nicht alle auf gleiche Weise damit ausgestattet sind? Aber ihre Verteilung geschieht nach einem Prinzip, das alle als gerecht anerkennen können: Denen, die mehr lieben und geliebt werden, wird mehr Schönheit zuteil, die ihrerseits zum Anreiz für mehr Liebe wird; ein sich selbst reproduzierender Prozess. Von der wechselseitigen Zuwendung und Zuneigung werden zahlreiche schöne Erfahrungen hervorgebracht.
3. Die Liebe macht schöne Erfahrungen . Die gesamte Vielfalt des Schönen, das »zwölffache Schöne«, steht dafür zur Verfügung: Vorweg Erlebnisschönes , die Möglichkeit, sehr vielBejahenswertes gemeinsam zu erleben, das beim Alleinsein anders oder gar nicht zu erleben wäre; und die schönen Erlebnisse, die der Andere vermittelt, spornen wiederum dazu an, ihm gleichwertige Erlebnisse zu verschaffen. Oft ist sinnlich Schönes damit verbunden, denn sämtliche Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens, Sich-Bewegens und Insich-Spürens können in der Liebe zur Entfaltung gelangen. Sie macht Kunstschönes erfahrbar, denn in allen rezipierbaren Künsten, vorweg in Literatur und Film, ist die Liebe das wichtigste Sujet, und für die Erarbeitung und Ausübung eigener, produktiver Künste wie der Kunst des Blicks, der Gestik, der Berührung, der Verführung ist sie der entscheidende Antrieb. Ebenso sorgt die Liebe für die Erfahrung von Naturschönem , sowohl in Bezug auf die innere Natur mit ihren vielgestaltigen Landschaften von Gefühlen und Gedanken als auch im Hinblick auf die äußere Natur, die zahlreiche Orte für bejahenswerte Erfahrungen zu zweit bereithält – wie leer aber erscheinen dieselben Orte, wenn einer allein sie wieder aufsucht! Menschlich Schönes ist in der Liebe zu erfahren in der äußeren und inneren Gestalt des Anderen, die schön und bejahenswert erscheint wie etwa Sokrates in Platons Symposion für Alkibiades, mochte er in den Augen
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