Die Liebe atmen lassen
ontologischen Stadium der Möglichkeiten, und schon bald verliert sich der intensive und doch distanzierte Moment in der Erinnerung. Was bleibt, ist die Übung der Seele in der Wahrnehmung des Schönen, und darauf kommt es an, denn einer Seele, die sich nicht auf solche Weise übt, droht die Abstumpfung. Ihre schönste Übung aber ist die Hingabe, die ihrerseits ohne Hinnahme nicht denkbar ist.
Die Kunst des Schenkens:
Hingabe und Hinnahme in der Liebe
Eine Beziehung wird begründet, bestärkt, aufgewertet, auch in Frage gestellt, abgewertet, aufgelöst durch Gaben und ihre Verweigerung. Die Regulierung der Gaben, die dem jeweils Anderen als Zeichen der Bejahung und Wertschätzung geschenkt oder als Zeichen der Verneinung und Geringschätzung verweigert werden, ist eine Art von Kommunikation, die tief in der Geschichte der Menschheit verwurzelt ist, mehr noch als jede verbale Sprache (Marcel Mauss, Die Gabe , 1950). Alle Beziehungen werden damit gesteuert, in besonderem Maße aber die Liebe, in der die spezifische Gabe Hingabe ist, eine Aktivität, die überaus lustvoll sein kann: Etwas wegzugeben von mir, hin zum Anderen, bis hin zu einem bedingungslosen Geben, nicht irgendwelcher Gaben, sondern des Besten, was ich zu geben habe und was dem Anderen gefällt.
Zu diesen Gaben gehört erstens Zeit , beliebig viel Zeit, alltägliche Zeit und Lebenszeit, die ich mit dem Anderen verbringe und nicht mehr für mich allein beanspruche.
Zweitens Aufmerksamkeit als Ausdrucksform der Energie, die ich dem Anderen und niemandem sonst in solchem Maße zuwende, sodass er, angeregt von meiner Wertschätzung, meinem Interesse, Verständnis, Begehren, auch von materiellen Gaben, die gerne als »Aufmerksamkeit« bezeichnet werden, aufleben kann und sich vielleicht seinerseits angeregt fühlt, mit seinen Möglichkeiten darauf zu antworten.
Drittens Bewunderung , die für die Beziehung unverzichtbar ist, denn wozu zusammen sein, wenn es nichts zu bewundern gibt am Anderen, an seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, seinen interessanten und spannenden Seiten?
Viertens Vertrauen , das in Liebesverhältnissen geradezu verschwenderisch gewährt und ausdrücklich als Geschenk tituliert wird: »Ich schenke dir Vertrauen«, einhergehend mit der Bereitschaft, dem Anderen »alles zu glauben« und im Verhältnis zu seiner Glaubwürdigkeit ihn selbst wertzuschätzen.
Besondere Gaben für den geliebten Anderen sind fünftens die Privilegien , die ich ihm einräume: »Du darfst alles!« Immer und überall darf er mich ansprechen und berühren, hat Zugang zu mir auf jede Weise, mit körperlicher Nähe und Zärtlichkeit, mit seelischen Aufwallungen aller Art, mit geistigem Austausch und einem Mitspracherecht auch in Dingen, die mich allein betreffen.
Ich schenke ihm sechstens Wohlwollen in jeder Form, komme ihm entgegen, begegne ihm mit Duldsamkeit, gewähre ihm größtmöglichen Freiraum und bin fürsorglich um ihn besorgt, zeige ihm mit Liebenswürdigkeit, wie sehr ich seiner Liebe würdig sein will; und mit großem Wohlwollen sehe ich ihm ein fehlendes Bedürfnis nach Nähe ebenso nach wie ein überschießendes: »Die Liebe vergibt dem Geliebten sogar die Begierde« (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft , II, 62).
Insbesondere sorge ich siebtens für das Wohlgefühl des Anderen, frage ihn, was er sich wünscht und freue mich an der Erfüllung, erweise ihm »Liebesdienste«, die ihm gut tun und in denen ich mich selbst verschenke, überwältigt vom Gefühl der Gemeinschaft mit ihm; dass es noch andere Gefühle geben könnte, rückt jetzt in weite Ferne und betrifft nur »die Anderen«.
Die Summe all dessen ist achtens das überaus bedeutsame Geschenk der Lebensgewissheit , die ich ihm geben kann und die ihm ermöglicht, heiter, gelassen und zuversichtlich durchs Leben zu gehen, mit der Zusicherung, immer für ihn da zu sein, Wechselfälle und Härten des Lebens durch das Einstehen für ihn abzumildern, auch die große Herausforderung des Lebens, das Altern, mit ihm zu bewältigen, kulminierend im ultimativen Liebesbeweis, »gemeinsam alt werden« zu wollen. Liebe ist die Gewissheit, einander viel und sogar alles zu bedeuten, sich aufgrund dessen des eigenen Ortes und seiner selbst in der Welt gewiss zu sein, unabhängig vom aktuellen Pegelstand der Gefühle: Die Gewissheit der Zusammengehörigkeit und die damit verbundene Selbstgewissheit machen die Liebe dermaßen wertvoll, dass die Liebenden bis zur Verzweiflung an ihr festzuhalten bereit
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