Die Liebe atmen lassen
kehrt im Beziehungsalltag zuverlässig wieder, ein nie abgeschlossener Prozess zwischen zweien. Nicht etwa erst am Ende der Liebe, sondern schon im Verlauf ihrer alltäglichen Schaukelbewegungen, mit mehr oder weniger extremen Ausschlägen, bricht eine Bejahung immer mal wieder in sich zusammen und verliert sich, ganz so, als würde das Leben prüfen wollen, ob das, was schön erscheint, auch unter veränderten Bedingungen noch bejaht werden kann. Und inmitten der Beziehung kommt es vor, dass aus der gefühlten Abwertung durch den Anderen ein verborgenes Rachegefühl gegen ihn erwächst, denn wer sich abgewertet fühlt, neigt dazu, seinerseits Andere abzuwerten und womöglich sogar zu äußersten Mitteln zu greifen, um dieWertschätzung seiner selbst doch noch zu erzwingen, und sei es nur dieses letzte Mal.
Kein Mensch kann zur Bejahung eines Anderen und zu entsprechenden Verhaltensweisen gezwungen werden: Dieses Problem teilt die ästhetische Ethik der Liebe mit jeder anderen Ethik. Das Schöne kann so unschön werden wie das Gute gelegentlich ungut; daran vermag alle Ethik und Moral, alle Verbindlichkeit und Normativität des einstmals Vereinbarten nichts zu ändern. Grenzen der Geringschätzung resultieren am ehesten aus der Goldenen Regel , wie alle Kulturen sie kennen, jeweils in eine populäre Fassung gebracht: »Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.« Will ich nicht, dass der Andere mich in Frage stellt, darf ich auch ihn nicht in Frage stellen. Was ich mir von ihm erhoffe, muss ich selbst auch ihm gewähren und seine Gefühle und Überlegungen nicht als belanglos abtun, sondern mich so in ihn einfühlen und ihn verstehen wollen, wie ich mir dies von ihm auch für mich wünschen würde. Die Goldene Regel, dieses Umkehrgebot der Klugheit, spricht das Eigeninteresse des Einzelnen an, denn wenn auf altruistische Gründe nicht mehr zu bauen ist, bleiben noch egoistische: So kann die ästhetische Ethik der Liebe den Einzelnen dazu anhalten, beim momentanen Nein zu manchen Aspekten am Anderen und in der Beziehung zu ihm, äußerstenfalls auch beim grundlegenden Nein zur Beziehung, sich dennoch nicht zur gänzlichen Verneinung und Entwertung seiner Person hinreißen zu lassen.
Die grundlegende Polariät bleibt jedoch auch hier bestehen: Nur im Kontrast gegen Nichtschönes tritt das Schöne deutlich hervor, und es macht Unschönes nicht unmöglich, sondern wechselt sich damit ab. Das Bejahenswerte kann nicht konstant gegenwärtig sein, nicht alles kann stetsgleichbleibend schön sein, zuweilen liegt die Schönheit auch unter einer Decke der Wahrnehmung verborgen, »verschneit« ( o’ersnow’d ), wie Shakespeare im 5. Sonett sagt. Die Atmung der Liebe findet ihre Entsprechung im atmenden Maß der Schönheit , in der Balance der Abfolge zwischen Zeiten und Verhältnissen, die mal mehr, mal weniger schön sind, mit gelegentlichen Ausflügen ins extrem Schöne und Bejahenswerte, umgekehrt ins allzu Hässliche und Verneinenswerte, willentlich oder unwillentlich. Bei einem anhaltenden Mangel an Schönheit droht eine Erfahrung der Sinnlosigkeit, denn das Schöne mit seiner Energie ist eine Quelle von Sinn ohnegleichen. Ohne Schönes können Menschen nicht leben, mit Schönem aber lassen sich unschöne Erfahrungen ausbalancieren, daher suchen Menschen so sehr danach, bei sich selbst und Anderen, in Dingen und Verhältnissen, in Kunstwerken und Landschaften. Bei einem anhaltenden Übermaß an Schönheit droht im Gegenzug der Überdruss an ihr, manche Situationen zwischen zweien sind nur so zu erklären: Die Schönheit belebt nicht nur, sie ermüdet auch, wenn sie zu lange genossen wird; daher ist es sinnlos, die Liebe immer nur schön haben zu wollen, sinnvoller, sie so zu dosieren, dass es keinen Grund gibt, ihrer überdrüssig zu werden.
Maßlosen Gebrauch von ihr zu machen, hat am ehesten in der Verliebtheit Platz, vor allem in der plötzlichen und folgenlosen Verliebtheit, von der derjenige, dem sie gilt, womöglich nichts weiß und nichts erfährt. Die flüchtige Begegnung lässt alles am Anderen schön erscheinen, ohne dass dies über den Tag hinaus auf die Probe gestellt werden müsste: Sein Gesicht, das so fein konturiert ist, seine Art, die Lippen zu bewegen, der Klang seiner Stimme, die Art seines Blicks, die Farbe seiner Augen, der Schnitt seiner Kleidung und wie siedie Eigenheiten seines Körpers hervorhebt oder verbirgt. Alles bleibt, wie im Traum, in der Schwebe, im
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