Die Liebe in den Zeiten der Cholera
eingeführt hatte und von dessen weiterem Schicksal nichts Genaues bekannt war, einst im Kirchenchor Geige gespielt hatte. Doch er war sicher, daß es sich nicht um das Pfingstläuten handeln konnte. Es gab einen Trauerfall in der Stadt, ganz gewiß, das war ihm klar. Eine Abordnung der Karibikflüchtlinge war an jenem Morgen zu ihm ins Haus gekommen, um ihm zu berichten, daß Jeremiah de Saint-Amour in seinem Fotoatelier tot aufgefunden worden war. Florentino Ariza war mit diesem Mann zwar nicht näher befreundet gewesen, dafür aber mit vielen anderen Flüchtlingen, die ihn immer zu ihren öffentlichen Veranstaltungen, insbesondere zu Begräbnissen, einluden. Doch er war sicher, daß die Glocken nicht für Jeremiah de Saint-Amour läuteten, der ein militanter Ungläubiger und ein eingefleischter Anarchist gewesen und zudem von eigener Hand gestorben war.
»Nein«, sagte er, »so ein Geläut gibt's nur vom Gouverneur aufwärts.«
América Vicuña, deren blasser Leib von den durch die schlecht geschlossenen Rollos fallenden Lichtstreifen getigert war, hatte nicht das Alter, in dem man an den Tod denkt. Sie hatten sich nach dem Mittagessen geliebt und lagen nun da, benommen nach der Siesta, nackt unter dem Flügelventilator, dessen Surren nicht das hagelähnliche Geprassel der auf dem aufgeheizten Blechdach herumlaufenden Hühnergeier übertönen konnte. Florentino Ariza liebte América Vicuña , wie er so viele Gelegenheitsfrauen in seinem langen Leben geliebt hatte, diese aber liebte er mit einer größeren Unruhe als alle anderen, war er sich doch sicher, selbst tödlich alt zu sein, wenn sie gerade die Oberschule beendet hätte. Der Raum glich eher einer Schiffskabine, die Wände bestanden aus Holzlatten, die genausooft wie Schiffe wieder und wieder überstrichen worden waren, aber die Hitze um vier Uhr nachmittags war trotz des über dem Bett angebrachten Ventilators durch das aufgeheizte Metalldach größer als in den Kabinen der Flußdampfer. Es war nicht eigentlich ein Schlafzimmer, sondern eine Kajüte auf Land, die sich Florentino Ariza hinter den Büroräumen der K. F. K. mit keinem anderen Vorsatz oder Vorwand hatte bauen lassen, als dem, einen guten Unterschlupf für seine Altersliebschaften zu haben. An Werktagen konnte man dort wegen des Geschreis der Stauer, des Getöses der Flußhafenkräne und des ungeheuren Dröhnens der Schiffe am Kai kaum ein Auge zumachen. Sonntags jedoch war es für das Mädchen ein Paradies.
Am Pfingstsonntag hatten sie zusammenbleiben wollen, bis sie fünf Minuten vor dem Angelus wieder im Internat sein mußte, doch das Geläut hatte Florentino Ariza an sein Versprechen erinnert, zu Jeremiah de Saint-Amours Begräbnis zu gehen, und er zog sich hastiger an als gewöhnlich. Zuvor flocht er dem Mädchen noch, wie immer, ihren Zopf, den er selbst vor der Liebe gelöst hatte, und hob sie auf den Tisch, um ihr die Schulschuhe zu schnüren, was sie nie richtig schaffte. Er half ihr ohne Arglist, und sie half ihm, ihr zu helfen, als sei es eine Pflicht: Seit ihren ersten Begegnungen waren sich beide nicht mehr ihres Alters bewußt und behandelten sich mit der Vertrautheit von Eheleuten, die im Leben so viel voreinander verborgen hatten, daß sie sich schon fast nichts mehr zu sagen hatten.
Die Geschäftsräume waren wegen des Feiertags geschlossen und dunkel, und am leeren Kai lag nur ein Schiff mit ungeheizten Kesseln. Die Schwüle kündigte Regen an, den ersten des Jahres, die klare Luft und die sonntägliche Stille des Hafens ließen an einen milden Monat denken. Hier schien die Welt härter als im Dämmerlicht der Kabine, und die Glockenschläge waren schmerzhafter, auch wenn man nicht wußte, wem sie galten. Florentino Ariza und das Mädchen stiegen in den Salpeterhof hinunter, der den Spaniern als Umschlagplatz beim Sklavenhandel gedient hatte und wo noch letzte Teile der Waage und andere angefressene Eisenutensilien aus jener Zeit zu finden waren. Das Automobil wartete im Schatten der Lagerhallen auf sie. Den Chauffeur, der hinter dem Lenkrad eingeschlafen war, weckten sie erst, als sie sich auf den Sitzen niedergelassen hatten. Der Wagen fuhr um die mit Maschendraht umzäunten Schuppen herum, überquerte den alten Marktplatz an der Bahia de las Ánimas, wo halbnackte Männer Ball spielten, und verließ den Flußhafen in einer glühenden Staubwolke. Florentino Ariza war sicher, daß die Trauer nicht Jeremiah de Saint-Amour gelten konnte, doch die Beharrlichkeit des Geläuts
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