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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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sie sich in einem gemächlichen Jahr der Zirkussamstage, der Parksonntage mit Eis, der kindgerechten Abende, mit denen er sich ihr Vertrauen, ihre Zuneigung gewann, und so nahm er sie mit der sanften List eines gütigen Großvaters an die Hand und führte sie zu seiner geheimen Liebeshöhle. Für sie geschah es plötzlich: Die Himmelstore öffneten sich ihr. Sie erblühte wie durch eine Explosion und schwebte in einer Vorhölle der Wonne, ein wirksamer Ansporn übrigens für ihre Studien, sie hielt sich nämlich in ihrer Klasse stets auf dem ersten Platz, um sich nicht um den Ausgang am Wochenende zu bringen. Für Florentino Ariza war sie der geschützteste Winkel in der Bucht des Alters. Nach so vielen Jahren der Liebe nach System hatte der fade Geschmack der Unschuld für ihn den Zauber einer erfrischenden Perversion.
    Sie ergänzten sich. Sie verhielt sich so, wie sich ein kleines Mädchen verhält, das bereit ist, das Leben an der Hand eines ehrwürdigen Mannes zu entdecken, den nichts aus der Fassung zu bringen vermag, und er verhielt sich so, als sei er das, was er sein ganzes Leben lang unter keinen Umständen hatte sein wollen: ein seniler Liebhaber. Er setzte sie nie mit Fermina Daza gleich, obwohl die Ähnlichkeit das nahegelegt hätte, nicht nur wegen ihres Alters und der Schuluniform, des Zopfes, ihres Rotwildgangs, sogar wegen ihres stolzen und unberechenbaren Charakters. Mehr noch: Die Vorstellung einer möglichen Stellvertreterin, die ihm bei seinem Liebeswerben noch reizvoll erschienen war, verlor sich vollkommen. Sie gefiel ihm um ihrer selbst willen, und er liebte sie schließlich um ihrer selbst willen mit dem genüßlichen Fieber der Abenddämmerung. Sie war die einzige, bei der er drastische Vorkehrungen gegen eine zufällige Schwangerschaft traf. Nach einem halben Dutzend Begegnungen träumten beide von nichts anderem mehr als von den Sonntagnachmittagen.
    Er war als einziger berechtigt, sie vom Internat abzuholen, und fuhr dort zu diesem Zweck mit dem Sechszylinder-Hudson der K. F. K. vor. An sonnenlosen Nachmittagen schlugen sie gelegentlich das Verdeck zurück und unternahmen Spazierfahrten am Strand, er trug seinen düsteren Hut, und sie hielt sich lachend mit beiden Händen die Matrosenmütze der Schuluniform fest, damit der Wind sie ihr nicht vom Kopf wehte. Irgend jemand hatte ihr geraten, sie solle nicht länger als nötig mit ihrem Betreuer zusammen sein, solle nichts essen, wovon er gekostet hätte, und seinem Atem nicht zu nahe kommen, da das Alter ansteckend sei. Aber das kümmerte sie nicht. Beiden war gleichgültig, was man über sie denken könnte, da das verwandtschaftliche Verhältnis wohl bekannt war und der extreme Altersunterschied sie außerdem gegen jeden Verdacht feite.
    Am Pfingstsonntag um vier Uhr nachmittags, als das Geläut einsetzte, hatten sie gerade miteinander geschlafen. Florentino Ariza mußte sich Zusammenreißen, der Schreck war ihm ins Herz gefahren. In seiner Jugend war das Totengeläut noch im Begräbnispreis inbegriffen gewesen und nur den Allerärmsten verweigert worden. Doch nach unserem letzten Krieg, auf der Schwelle zwischen den beiden Jahrhunderten, hatte sich das konservative Regime mit seinen kolonialen Sitten konsolidiert, und die Bestattungszeremonien waren so teuer geworden, daß nur die Reichsten sie noch bezahlen konnten. Als der Erzbischof Dante de Luna starb, schlugen in der ganzen Provinz die Glocken ohne Unterlaß neun Tage und neun Nächte lang, und die öffentliche Ruhe war dadurch so empfindlich gestört worden, daß sein Nachfolger das Trauergeläut abschaffte beziehungsweise es nur den prominenten Toten vorbehielt. Als Florentino Ariza an einem Pfingstsonntag um vier Uhr nachmittags die Glocken der Kathedrale hörte, hatte er daher das Gefühl, ein Gespenst aus seiner verlorenen Jugend suche ihn heim. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, daß es sich um das Geläut handelte, auf das er so viele, viele Jahre sehnlichst gewartet hatte, seit jenem Sonntag, da er Fermina Daza, die im sechsten Monat schwanger war, nach dem Hochamt gesehen hatte. »Verflixt«, sagte er im Halbdunkel, »das muß schon ein großer Fisch sein, wenn man ihn in der Kathedrale ausläutet.« América Vicuñia, die ganz nackt dalag, wachte auf. »Wird wohl wegen Pfingsten sein.«
    Florentino Ariza war alles andere als ein Fachmann in Kirchendingen und kaum mehr zur Messe gegangen, seitdem er mit einem Deutschen, der ihn auch in die Wissenschaft der Telegraphie

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