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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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machte ihn stutzig. Er legte dem Fahrer eine Hand auf die Schulter und schrie ihm die Frage ins Ohr, für wen denn die Glocken läuteten.
    »Für den Arzt, den mit dem Spitzbart«, sagte der Chauffeur. »Wie heißt er gleich?«
    Florentino Ariza mußte nicht überlegen, er wußte, wer gemeint war. Als der Chauffeur ihm jedoch erzählte, wie der Arzt gestorben sein sollte, schwand die momentane Hoffnung, da die Geschichte ihm nicht glaubhaft erschien. Denn nichts gleicht einem Menschen so sehr wie die Art seines Todes, und diese glich so ganz und gar nicht dem Mann seiner Vorstellung. Doch der war es, auch wenn es absurd anmutete: der älteste und qualifizierteste Arzt der Stadt, einer ihrer hervorragendsten Männer, auch vieler anderer Verdienste wegen, war im Alter von einundachtzig Jahren bei dem Versuch, einen Papagei zu fangen, von einem Mangobaum gestürzt und mit zerschmetterter Wirbelsäule gestorben. Alles, was Florentino Ariza seit Fermina Dazas Heirat getan hatte, war in Erwartung dieser Nachricht geschehen. Als aber die Stunde gekommen war, überkam ihn nicht das Gefühl des Triumphes, das er in seinen schlaflosen Nächten sooft im vorhinein ausgekostet hatte, sondern ihn befiel Panik: die ungeheuerliche Einsicht, daß die Totenglocken ebensogut für ihn hätten läuten können. América Vicuña , die neben ihm in dem über Kopfsteinpflaster holpernden Auto saß, erschrak über seine Blässe und fragte, was mit ihm sei. Florentino Ariza nahm ihre Hand in seine eisige. »Ach, Kindchen«, seufzte er, »da brauchte ich noch einmal fünfzig Jahre, um dir das zu erklären.« Er vergaß die Beerdigung von Jeremiah de Saint-Amour. América Vicuña setzte er am Eingang des Internats mit dem hastigen Versprechen ab, sie am nächsten Samstag wieder abzuholen, und befahl dann dem Chauffeur, ihn zu Doktor Juvenal Urbinos Haus zu fahren. Er traf in den Nachbarstraßen auf die sich stauenden Autos und Droschken und vor dem Haus auf einen Menschenauflauf von Neugierigen. Die Gäste von Lácides Olivella, die von der schlechten Nachricht auf dem Höhepunkt des Festes überrascht worden waren, fielen truppweise ein. Es war nicht leicht, zwischen all den Menschen im Haus hindurchzukommen, doch Florentino Ariza gelang es, sich einen Weg bis zum ehelichen Schlafzimmer zu bahnen, er reckte sich über die Grüppchen, die die Tür blockierten, und da lag Juvenal Urbino auf dem Ehebett, so wie er ihn immer hatte sehen wollen, seitdem er zum ersten Mal von ihm gehört hatte, in die Würdelosigkeit des Todes gesunken. Der Schreiner hatte gerade für den Sarg Maß genommen. Neben dem Leichnam stand, wie eine Großmutter im hochzeitlichen Kleid, das sie für das Fest angezogen hatte, abwesend und welk, Fermina Daza. Florentino Ariza hatte sich diesen Augenblick seit seinen jungen Jahren, als er sich seiner waghalsigen Liebe ganz verschrieben hatte, bis ins kleinste Detail ausgemalt. Für sie hatte er sich einen Namen und ein Vermögen erworben, ohne dabei allzusehr auf die Methoden zu achten, für sie hatte er seine Gesundheit und seine äußere Erscheinung mit einer Gewissenhaftigkeit gepflegt, die andere Männer seiner Zeit nicht für besonders männlich hielten, und er hatte auf jenen Tag gewartet, wie niemand sonst auf dieser Welt auf etwas oder auf jemanden hätte warten können: ohne einen Augenblick mutlos zu werden. Daß der Tod nun endlich zu seinen Gunsten eingegriffen hatte, gab ihm die nötige Courage, Fermina Daza in ihrer ersten Witwennacht erneut ewige Treue und stete Liebe zu schwören. Vor seinem Gewissen leugnete er nicht, daß es eine unbedachte Handlung gewesen war, ohne jedes Gespür für das Wie und Wann, zudem übereilt, aus der Angst, diese Gelegenheit könne sich niemals wieder bieten. Er hätte es sich weniger brutal gewünscht und auch oft so vorgestellt, doch es war ihm nicht anders beschieden gewesen. Er hatte das Trauerhaus in dem Schmerz verlassen, sie in den gleichen Zustand der Erschütterung versetzt zu haben, in dem er sich selbst befand, hatte das jedoch nicht verhindern können, denn diese barbarische Nacht, das spürte er, war ihnen von jeher vorbestimmt gewesen.
    In den folgenden zwei Wochen schlief er keine Nacht richtig. Verzweifelt fragte er sich, wo Fermina Daza ohne ihn sei, was sie denke, wie sie die noch vor ihr liegenden Jahre mit der Bürde des Schreckens, die er ihr aufgeladen hatte, leben würde. Er litt an einer akuten Verstopfung, die ihm den Unterleib wie eine Trommel aufblähte,

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