Die Liebe in den Zeiten der Cholera
und mußte auf weniger angenehme Mittel als die Spülungen zurückgreifen. Seine Altersbeschwerden, die er besser als seine Generationsgefährten ertrug, weil er sie von Jugend an kannte, überfielen ihn alle auf einmal. Am Mittwoch erschien er nach einer Woche Abwesenheit wieder im Büro, und Leona Cassiani erschrak, als sie ihn derart bleich und verwahrlost sah. Aber er beruhigte sie: Es sei die Schlaflosigkeit, wie immer, und wieder mußte er sich auf die Zunge beißen, damit die Wahrheit nicht aus einem der vielen Lecks in seinem Herzen hervorsprudelte. Der Regen ließ ihm keine sonnige Schonfrist zum Nachdenken. Er brachte noch eine unwirkliche Woche hinter sich, konnte sich auf nichts konzentrieren, aß kaum und schlief noch weniger, versuchte verschlüsselte Zeichen aufzufangen, die ihm den Weg des Heils hätten weisen können. Am Freitag überkam ihn jedoch ganz ohne Grund Gelassenheit, er nahm sie als Hinweis dafür, daß nichts Neues geschehen werde, daß alles, was er im Leben unternommen hatte, nutzlos gewesen war und es nicht weiter gehen konnte: Das war das Ende. Am Montag jedoch, als er in die Calle de las Ventanas heimkam, stolperte er fast über einen Brief, der im überschwemmten Hausflur trieb, und auf dem nassen Umschlag erkannte er sogleich die herrische Handschrift, die alle Wechselfälle des Lebens nicht hatten verändern können, und er meinte sogar, den nächtlichen Duft der welken Gardenien wahrzunehmen, denn im ersten Schrecken hatte das Herz ihm schon alles gesagt: Das war der Brief, auf den er über ein halbes Jahrhundert lang ohne einen Augenblick der Gelassenheit gewartet hatte.
F ermina Daza wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß Florentino Ariza ihren vom blinden Zorn diktierten Brief als Liebesbrief verstehen könnte. Sie hatte alle Wut, derer sie fähig war, hineingelegt, die grausamsten Worte, besonders verletzende und zudem ungerechte Schmähungen, die ihr jedoch geringfügig erschienen, verglichen mit dem Ausmaß der Beleidigung. Es war der letzte Akt von einem bitteren Exorzismus gewesen, der ihr ermöglichen sollte, sich mit ihrer neuen Lage auszusöhnen. Sie wollte wieder sie selbst sein und alles zurückerobern, was sie in einem halben Jahrhundert zweifellos glücklicher Leibeigenschaft hatte abtreten müssen und was sie nun, da der Ehemann tot war, ohne einen Rest der eigenen Identität zurückließ. Sie war ein Gespenst in einem fremden Haus, das von einem Tag auf den anderen riesig und einsam geworden war, sie trieb ziellos dahin und fragte sich verängstigt, wer denn toter sei: der Gestorbene oder die Zurückgebliebene. Sie konnte einen versteckten Groll gegen den Mann nicht unterdrücken, hatte er sie doch inmitten des Ozeans alleingelassen. Alles, was ihm gehört hatte, brachte sie zum Weinen: der Pyjama unter dem Kopfkissen, die Pantoffeln, die ihr immer wie die eines Kranken vorgekommen waren, die Erinnerung daran, wie sie, wenn sie sich vorm Schlafengehen kämmte, ihm im Spiegel beim Ausziehen sah, der Geruch seiner Haut, der noch lange Zeit nach seinem Tod an ihrer Haut haften sollte. Mitten in irgendeiner Tätigkeit schlug sie sich an die Stirn, weil ihr plötzlich etwas einfiel, das sie vergessen hatte, ihm zu sagen. Ständig kamen ihr alltägliche Fragen in den Sinn, die nur er hätte beantworten können. Er hatte ihr einmal etwas erzählt, was sie sich nicht hatte vorstellen können: Amputierte fühlen in dem Bein, das sie nicht mehr haben, Schmerzen, Krämpfe, Kitzeln. So fühlte sie sich ohne ihn, sie spürte ihn dort, wo er nicht mehr war. Als sie an ihrem ersten Witwenmorgen aufgewacht war, hatte sie sich, ohne erst die Augen zu öffnen, im Bett herumgedreht, um eine bequemere Lage zum Weiterschlafen zu finden, und in eben dem Augenblick war er für sie gestorben. Erst da war ihr nämlich bewußt geworden, daß er nun zum ersten Mal die Nacht außer Haus verbracht hatte. Eine ähnliche Empfindung hatte sie bei Tisch, nicht weil sie sich allein fühlte, was sie auch tatsächlich war, sondern wegen der seltsamen Gewißheit, mit jemandem zusammen zu essen, den es nicht mehr gab. Erst als ihre Tochter mit Mann und drei Töchtern aus New Orleans kam, setzte Fermina Daza sich zum Essen wieder an den Tisch, allerdings nicht an den alten Tisch, sondern an einen kleineren, den sie vorläufig in die Vorhalle stellen ließ. Bis dahin hatte sie keine regelmäßige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Sie ging irgendwann, wenn sie Hunger hatte, in die
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