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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Bekanntes ausgelassen hatte. Florentino Ariza spürte, wie ihn ein übernatürlicher Wind aus dem Gleichgewicht brachte: Sie hatte ihn gesehen. Tatsächlich löste sich Fermina Daza von ihren Begleitern mit der Ungezwungenheit, mit der sie sich stets in der Gesellschaft bewegte, reichte ihm die Hand und sagte mit einem sanften Lächeln:
    »Danke, daß Sie gekommen sind.«
    Denn sie hatte die Briefe nicht nur erhalten, sondern auch mit großer Anteilnahme gelesen und darin bedenkenswerte Gründe zum Weiterleben gefunden. Als sie den ersten Brief bekam, hatte sie gerade mit ihrer Tochter beim Frühstück gesessen. Sie öffnete den Brief aus Neugier, weil er mit der Maschine geschrieben war, und ihr Gesicht brannte von einem plötzlichen Erröten, als sie die Initialen der Unterschrift erkannte. Doch sie überwand es sofort und steckte den Brief in die Schürzentasche. »Von der Regierung, ein Beileidsbrief«, sagte sie. Die Tochter war erstaunt: »Es sind doch schon alle eingetroffen.« Sie blieb ungerührt: »Das hier ist noch einer.« Sie hatte die Absicht, den Brief später fern von den Fragen der Tochter zu verbrennen, sie konnte der Versuchung jedoch nicht widerstehen, zuvor einen Blick hineinzuwerfen. Sie erwartete eine verdiente Antwort auf ihren Schmähbrief, den sie, kaum daß sie ihn abgeschickt hatte, zu bereuen begonnen hatte, doch schon der vornehme Briefkopf und die Einleitung des ersten Absatzes ließen sie erkennen, daß sich in der Welt etwas verändert hatte. Das machte sie so neugierig, daß sie sich in ihr Schlafzimmer einschloß, um den Brief, bevor sie ihn verbrannte, in Ruhe zu lesen, und sie las ihn dreimal, ohne Atem zu holen. Es waren Betrachtungen über das Leben, die Liebe, das Alter, den Tod: Gedanken, die oft mit dem Flügelschlag von Nachtvögeln über ihren Kopf hinweggezogen und, wenn sie versuchte, sie festzuhalten, in Federwolken zerstoben waren.
    Hier waren sie wieder, genau und einfach, so, wie sie sie gern ausgedrückt hätte, und erneut schmerzte es sie, daß ihr Mann nicht mehr am Leben war, um mit ihm darüber zu sprechen, wie sie vor dem Schlafengehen über bestimmte Ereignisse des Tages zu reden pflegten. Auf diese Weise offenbarte sich ihr ein unbekannter Florentino Ariza, der über eine Hellsicht verfügte, die weder zu den fiebrigen Boschaften seiner Jugend noch zu dem düsteren Benehmen in seinem restlichen Leben paßte. Es waren eher die Worte jenes Mannes, der Tante Escolástica wie vom Heiligen Geist beseelt erschienen war, und dieser Gedanke erschreckte sie wie beim ersten Mal. Immerhin beruhigte dann die Gewißheit ihr Gemüt, daß jener Brief eines weisen alten Mannes nicht der Versuch war, die Ungehörigkeit der Trauernacht zu wiederholen, es war vielmehr eine vornehme Art, die Vergangenheit auszulöschen.
    Die folgenden Briefe besänftigten sie vollends. Sie verbrannte sie dennoch, nachdem sie sie mit wachsendem Interesse gelesen hatte, während sie aber einen nach dem anderen verbrannte, lagerte sich in ihrem Gewissen der Bodensatz einer Schuld ab, die sie nicht abzutragen vermochte. Als die Briefe dann numeriert einzutreffen begannen, fand sie darin die gewünschte moralische Rechtfertigung, sie nicht vernichten zu müssen. Sie hatte ursprünglich keinesfalls die Absicht gehabt, sie für sich aufzuheben, sondern wollte eine Gelegenheit abwarten, um sie Florentino Ariza zurückzugeben, damit etwas, das ihr menschlich so nutzvoll schien, nicht verlorenging. Das Schlimme war, daß die Zeit verstrich und weitere Briefe kamen, das ganze Jahr über alle drei oder vier Tage einer, und sie nun nicht wußte, wie sie ihm alle zurückgeben konnte, ohne daß er es als Kränkung auffassen mußte, was sie schon nicht mehr wollte, und ohne es lang in einem Brief erklären zu müssen, den ihr der Stolz verbot. Dieses erste Jahr hatte ihr genügt, die Witwenschaft anzunehmen. Die geläuterte Erinnerung an den Ehemann beeinträchtigte sie nicht mehr bei den alltäglichen Verrichtungen, bei ihren innersten Gedanken, bei den einfachsten Vorhaben, sondern gewann für sie eine wachsame Gegenwärtigkeit, die sie leitete, ohne ihr im Weg zu sein. Zuweilen begegnete sie ihm, nicht seiner Erscheinung, sondern ihm leibhaftig, und zwar da, wo er ihr wirklich fehlte. Es gab ihr Mut, ihn dort zu wissen, noch lebendig, aber ohne seine Männerlaunen, seine patriarchalische Anmaßung, ohne den aufreibenden Anspruch, daß sie ihn mit dem gleichen Ritual der Küsse und zärtlichen Worte zum

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