Die Liebe in den Zeiten der Cholera
öffnen, und so weiter bis zum Ende der Zeiten, während er sich dem Ende seiner schriftlichen Meditationen näherte. Er glaubte nicht, daß es eine Frau gab, die im Stande gewesen wäre, während eines halben Jahres täglicher Briefe ihre Neugier so zu bezwingen, daß sie nicht wenigstens wissen wollte, was für eine Farbe die Tinte hatte, mit der sie geschrieben waren. Wenn es aber solch eine Frau gab, dann konnte nur sie es sein.
Florentino Ariza empfand die Zeit des Alters nicht als horizontal dahinfließenden Strom, sondern als eine Zisterne ohne Grund, in der das Gedächtnis versickerte. Seine Erfindungsgabe war erschöpft. Nachdem er mehrere Tage um das Anwesen in La Manga herumgestrichen war, hatte er eingesehen, daß es ihm mit dieser Jünglingsmethode nicht gelingen würde, die zur Trauer verurteilten Türen aufzubrechen. Eines Morgens, als er im Telefonbuch eine Nummer suchte, stieß er zufällig auf Fermina Dazas. Er rief an. Es klingelte lange, und dann endlich erkannte er die Stimme, sie war ernst und heiser: »Ja bitte?« Er legte auf, ohne etwas gesagt zu haben, doch die unendliche Ferne jener unerreichbaren Stimme schlug ihm aufs Gemüt.
In jenen Tagen feierte Leona Cassiani ihren Geburtstag und lud ein paar Freunde zu sich nach Hause ein. Florentino Ariza war zerstreut und bekleckerte sich mit der Hähnchensauce. Sie säuberte ihm das Revers mit dem Zipfel einer Serviette, den sie in einem Wasserglas angefeuchtet hatte, und legte ihm diese dann, um größerem Mißgeschick vorzubeugen, wie ein Lätzchen um. Ihr fiel auf, daß er während des Essens mehrmals die Brille abnahm, um sie mit dem Taschentuch trockenzureiben, da ihm die Augen tränten. Beim Kaffee nickte er mit der Tasse in der Hand ein, und sie versuchte, ihm die Tasse abzunehmen, ohne ihn aufzuwecken, doch er fuhr beschämt auf: »Ich habe nur die Augen ein wenig ausgeruht.« Noch als Leona Cassiani zu Bett ging, wunderte sie sich darüber, wie sehr ihm plötzlich sein Alter anzusehen war.
Am ersten Jahrestag von Juvenal Urbinos Tod verschickte die Familie Einladungen zu einer Gedenkmesse in der Kathedrale. Zu diesem Zeitpunkt hatte Florentino Ariza den hundertzweiunddreißigsten Brief abgeschickt, ohne irgendein Antwortzeichen empfangen zu haben, und so kam er auf den kühnen Gedanken, auch uneingeladen zur Messe zu gehen.
Sie wurde zu einem gesellschaftlichen Ereignis, das eher prunkvoll als bewegend war. Die Bänke in den ersten Reihen hatten an den Rücklehnen Kupferschildchen mit den Namen der Besitzer, für die sie auf Lebenszeit reserviert waren, um danach auf die Erben überzugehen. Florentino Ariza traf mit den ersten Gästen ein, um sich einen Platz zu suchen, an dem Fermina Daza nicht vorbeigehen konnte, ohne ihn zu sehen. Am geeignetsten schienen ihm die Bänke im Mittelschiff hinter den reservierten zu sein, doch der Andrang war so groß, daß er da keinen freien Platz mehr fand und sich ins Seitenschiff zu den armen Verwandten setzen mußte. Von dort aus sah er Fermina Daza am Arm ihres Sohnes hereinkommen, sie war bis zu den Handgelenken in schwarzen Samt gekleidet, ohne jeden Schmuck, mit einer durchgehenden Knopfleiste vom Hals bis zu den Fußspitzen wie bei einer Bischofssoutane, und auf dem Kopf trug sie statt des Hutes mit Schleier anderer Witwen und auch vieler Damen, die es hätten sein wollen, ein Tuch aus spanischen Spitzen. Das unbedeckte Antlitz schimmerte wie Alabaster, die blattförmigen Augen hatten unter den riesigen Lüstern des Mittelschiffs ihre eigene Lebendigkeit, und sie ging so aufrecht, so hoheitsvoll und beherrscht, daß sie nicht älter zu sein schien als ihr Sohn. Florentino Ariza, der stand, mußte sich mit den Fingern an der Banklehne abstützen, bis ihm nicht mehr schwindlig war: Er hatte deutlich gespürt, daß er und sie nicht sieben Schritte voneinander entfernt waren, sondern in zwei verschiedenen Zeiten lebten.
Fermina Daza hielt in der Familienbank vor dem Hauptaltar fast die ganze Zeremonie stehend durch, so aufmerksam wie bei einer Opernvorstellung. Zum Schluß durchbrach sie noch die Ordnung des Trauerrituals, indem sie nicht, wie es Brauch war, auf ihrem Platz blieb, um dort erneut die Kondolenzen entgegenzunehmen, sondern sich aufmachte, jedem Besucher einzeln zu danken: eine Geste der Erneuerung, die ganz ihrem Wesen entsprach. Einen nach dem anderen begrüßend, kam sie bis zu den Bänken der armen Verwandten und schaute sich zuletzt noch um, um sicherzugehen, daß sie niemand
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