Die Liebe in den Zeiten der Cholera
denken, der kein Mittel zu irgendeinem Zweck, sondern selbst Ursprung und Ziel war. Er war klug genug, nicht sofort auf eine Antwort zu warten, es genügte ihm, daß der Brief nicht zurückgewiesen wurde. Das wurde er nicht, ebensowenig die folgenden, und so nahm seine Unruhe mit jedem Tag zu, denn je mehr Tage ohne Rücksendung vergingen, um so größer wurde die Hoffnung auf eine Antwort. Am Anfang war die Häufigkeit seiner Briefe durch seine Fingerfertigkeit vorgegeben: erst einer pro Woche, dann zwei, schließlich einer pro Tag. Er freute sich über die Fortschritte im Postverkehr seit seiner Zeit als Flaggenwärter, denn das Risiko, täglich im Postamt dabei gesehen zu werden, wie er einen Brief an stets die gleiche Person aufgab, wäre er nicht eingegangen, noch hätte er seine Briefe mit einem Boten schicken können, der womöglich plauderte. Dagegen war nichts leichter, als sich von einem Angestellten die Briefmarken für einen ganzen Monat holen zu lassen und den Brief dann in einen der drei Briefkästen in der Altstadt zu werfen. Bald hatte er dieses Ritual in seinen Tagesablauf eingebaut: Die schlaflosen Stunden nützte er zum Schreiben, und am Tag darauf bat er auf dem Weg zum Büro den Chauffeur, einen Augenblick an einer Ecke vor dem Briefkasten zu halten, und stieg dann selbst aus, um den Brief einzuwerfen. Er erlaubte nie, daß der Chauffeur das für ihn erledigte, was dieser an einem regnerischen Morgen angeboten hatte, und traf manchmal die Vorsichtsmaßnahme, nicht nur den einen, sondern mehrere Briefe gleichzeitig einzustecken, damit es natürlicher wirkte. Der Chauffeur wußte selbstverständlich nicht, daß die zusätzlichen Briefe unbeschriebene Seiten waren, die Florentino Ariza an sich selbst adressierte, da er nie mit irgend jemandem einen privaten Briefwechsel geführt hatte, wenn man von seinem Bericht als Betreuer absah, in dem er jeweils am Monatsende den Eltern von América Vicuña seinen persönlichen Eindruck von dem Verhalten, der körperlichen und seelischen Verfassung und den Studienfortschritten des Mädchens schilderte.
Nach dem ersten Monat begann er, die Briefe an Fermina Daza zu numerieren, und setzte wie bei Fortsetzungsromanen an den Anfang eine Zusammenfassung des jeweils vorangegangenen Briefes, aus Furcht, sie könne übersehen, daß es so etwas wie eine Kontinuität gab. Als er dann täglich schrieb, tauschte er außerdem die Trauerumschläge gegen längliche weiße Kuverts aus, was den Briefen endgültig die komplizenhafte Unpersönlichkeit von Geschäftskorrespondenz gab. Von Anfang an war er bereit gewesen, seine Geduld einer schweren Probe zu unterwerfen, solange er keinen Beweis dafür hatte, daß er mit dieser einzigen neuen Methode, die er sich hatte ausdenken können, nicht seine Zeit verschwendete. So konnte er tatsächlich warten, ohne dabei wie in seiner Jugend Anfechtungen aller Art ausgesetzt zu sein, nun mit dem Starrsinn eines eisernen Greises, der an nichts anderes mehr denken mußte, auch nichts mehr zu tun hatte in einem Flußschiffahrtsunternehmen, das damals schon in günstigem Wind allein seinen Weg machte, und im übrigen war er davon überzeugt, dereinst an jenem Tag lebendig und im Vollbesitz seiner Manneskraft zu sein, wenn Fermina Daza endlich begreifen würde, daß es für ihre Sehnsüchte einer einsamen Witwe kein anderes Heilmittel gab, als die Zugbrücke für ihn herunterzulassen. Inzwischen führte er sein Leben wie immer weiter. Da er mit einer günstigen Antwort rechnete, ließ er das Haus ein zweites Mal renovieren, damit es jener würdig sei, die sich, seitdem es gekauft worden war, als seine Herrin und Gebieterin betrachten konnte. Wie versprochen besuchte er noch mehrmals Prudencia Pitre, um ihr zu beweisen, daß er sie trotz der Verheerungen des Alters auch bei Tageslicht und offenen Türen liebte und nicht nur in den Nächten seiner Verlassenheit. Er ging auch weiter am Haus von Andrea Varón vorbei, bis einmal das Licht im Badezimmer gelöscht war, und versuchte dann, sich in ihrem liebestollen Bett auszutoben, und sei es nur, um nicht aus der Übung zu kommen, denn auch darin war er abergläubisch und noch nicht eines Besseren belehrt worden, solange man weitermacht, meinte er, macht auch der Körper mit.
Das einzig Störende war seine Beziehung zu América Vicuña. Er hatte zwar den Chauffeur angewiesen, sie auch weiterhin samstags um zehn Uhr vormittags im Internat abzuholen, wußte aber nicht, was er am Wochenende mit ihr
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