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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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harmlosen Sturz beginnt und der Tod mit dem zweiten folgt. Gefährlicher als alle anderen erschien ihm die Treppe in seiner Firma, weil sie steil und eng war, und schon lange, bevor er sich dazu zwingen mußte, nicht mit den Füßen zu schlurfen, schaute er genau auf jede Stufe und hielt sich beim Hochsteigen mit beiden Händen am Geländer fest. Oft war ihm nahegelegt worden, eine weniger gefährliche Treppe einbauen zu lassen, doch der Entschluß wurde immer auf den kommenden Monat verschoben, weil er darin ein Zugeständnis an das Alter sah. Mit dem Lauf der Jahre ließ er sich jedesmal mehr Zeit beim Hinaufsteigen, nicht weil es ihm schwerer gefallen wäre, wie er sich zu erklären beeilte, sondern weil er von Mal zu Mal vorsichtiger wurde. An dem Nachmittag jedoch, als er von dem Essen mit Doktor Urbino Daza zurückkehrte, nach einem Gläschen Portwein zum Aperitif und einem halben Glas Rotwein zum Essen und vor allem nach dem siegreichen Gespräch, versuchte er die dritte Stufe mit einem derart jugendlichen Tanzschritt zu nehmen, daß er sich dabei den linken Knöchel verstauchte, auf den Rücken fiel und nur wie durch ein Wunder nicht den Tod fand. Im Augenblick des Sturzes war er noch hellsichtig genug für den Gedanken, daß er an diesem Mißgeschick nicht sterben konnte, da die Logik des Lebens es nicht zuließ, daß zwei Männer, die so viele Jahre hindurch so sehr dieselbe Frau geliebt hatten, mit nur einem Jahr Unterschied auf die gleiche Weise stürben. Er hatte recht. Sein Bein kam vom Fuß bis zur Wade in einen Gipspanzer, und er mußte regungslos im Bett liegenbleiben, war jedoch lebendiger als vor dem Sturz. Als der Arzt ihm die sechzig Tage Invalidität verordnete, konnte er an so viel Unglück nicht glauben. »Tun Sie mir das nicht an, Doktor«, flehte er ihn an, »zwei Monate sind für mich so viel wie zehn Jahre für Sie.« Mehrmals versuchte er aufzustehen, indem er die Beinstatue mit beiden Händen anhob, doch immer besiegte ihn die Realität. Als er aber mit dem noch schmerzenden Knöchel und einem wundgelegenen Rücken endlich wieder gehen konnte, hatte er allen Grund zu glauben, daß das Schicksal seine Beharrlichkeit mit einem glückbringenden Sturz belohnt hatte.
    Der erste Montag war für ihn der schwerste Tag gewesen. Der Schmerz hatte nachgelassen, und die Prognose des Arztes war ermutigend, doch Florentino Ariza wollte nicht fatalistisch hinnehmen, am folgenden Nachmittag Fermina Daza zum ersten Mal seit vier Monaten nicht sehen zu können. Nach einer Siesta der Resignation beugte er sich den Umständen und schrieb ein Entschuldigungsbillett. Er schrieb es mit der Hand auf parfümiertes Papier und mit Leuchttinte, die man im Dunkeln lesen konnte, dabei dramatisierte er schamlos den Unfall, um ihr Mitleid zu wecken. Sie antwortete zwei Tage später, sehr mitfühlend, sehr liebenswürdig, doch wie in den großen Tagen der Liebe mit keinem Wort zuviel oder zuwenig. Er ergriff die Gelegenheit beim Schöpf und schrieb zurück. Als sie ihm zum zweiten Mal geantwortet hatte, beschloß er, sehr viel weiter als in den verschlüsselten Dienstagsgesprächen zu gehen, und ließ unter dem Vorwand, das tägliche Geschehen im Unternehmen überwachen zu wollen, neben seinem Bett ein Telefon anschließen. Er bat die Telefonistin der Zentrale, ihn mit der dreistelligen Nummer zu verbinden, die er seit seinem ersten Anruf auswendig konnte. Die Stimme mit dem matten Klang, durch die Entfernung geheimnisvoll aufgeladen, diese geliebte Stimme meldete sich, erkannte die andere Stimme und verabschiedete sich nach drei konventionellen Begrüßungssätzen. Florentino Ariza war untröstlich über ihre Gleichgültigkeit: Sie standen wieder einmal am Anfang.
    Zwei Tage später jedoch erhielt er einen Brief, in dem Fermina Daza ihn darum bat, sie nicht mehr anzurufen. Sie hatte triftige Gründe. Es gab so wenige Telefone in der Stadt, daß die Gespräche von einer Angestellten vermittelt wurden, die alle Teilnehmer einschließlich ihrer Lebensgeschichte kannte, und wenn die Leute nicht zu Hause waren, machte es auch nichts: Sie stöberte sie dort auf, wo sie gerade waren. Als Entschädigung für so viel Effizienz hielt sie sich durch die Gespräche auf dem Laufenden, bekam Einblick in das heimliche Privatleben, die bestgehüteten Dramen, und schaltete sich nicht selten in Gespräche ein, um ihren Standpunkt mitzuteilen oder die Gemüter zu beschwichtigen. Zum anderen war in jenem Jahr die Abendzeitung La Justicia

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