Die Liebe in den Zeiten der Cholera
überraschte ihn die Antwort.
»Kommen Sie, wann Sie mögen«, sagte sie, »ich bin fast immer allein.« Vier Tage später, am Dienstag, kam er unangemeldet wieder, und sie wartete nicht ab, bis ihnen der Tee gebracht wurde, um ihm zu sagen, wie sehr ihr seine Briefe geholfen hätten. Er sagte, es habe sich strenggenommen nicht um Briefe, sondern um die losen Blätter eines Buches gehandelt, das er gern geschrieben hätte. Auch sie hatte das so verstanden. Sie habe sogar daran gedacht, ihm die Briefe, falls er das nicht als Kränkung auffaßte, zurückzugeben, damit er sie noch sinnvoller verwende. Sie sprach weiter darüber, wie gut ihr die Briefe in der schweren Zeit, die sie durchgemacht hatte, getan hätten, und sagte das mit einer solchen Begeisterung und Dankbarkeit, vielleicht sogar Zuneigung, daß Florentino Ariza mehr als nur einen Schritt weiter auf festem Boden machte: Er wagte einen Salto mortale. »Früher haben wir uns geduzt«, sagte er. Früher: Das war ein verbotenes Wort. Sie spürte, wie der Engel der Vergangenheit chimärenhaft vorüberschwebte, und versuchte, ihm auszuweichen. Doch Florentino Ariza wurde noch deutlicher: »Ich meine früher in unseren Briefen.« Sie war verstimmt und mußte sich ernsthaft bemühen, es sich nicht anmerken zu lassen. Er merkte es dennoch und begriff, daß er behutsamer vorgehen mußte, wenngleich ihm sein Ausrutscher zeigte, daß sie zwar immer noch so widerspenstig war wie in ihrer Jugend, aber gelernt hatte, sich sanfter zu geben.
»Ich meine«, sagte er, »daß diese Briefe etwas ganz anderes sind.«
»Alles in der Welt hat sich verändert«, sagte sie. »Ich nicht«, sagte er. »Und Sie?«
Sie hielt inne, die zweite Tasse Tee auf halbem Weg zum Mund, und wies ihn zurecht mit diesen Augen, die allen Schicksalsschlägen widerstanden hatten. »Das tut nichts mehr zur Sache«, sagte sie. »Ich bin gerade zweiundsiebzig Jahre alt geworden.« Florentino Ariza traf der Schlag mitten ins Herz. Er hätte gern mit der Schnelligkeit und dem Instinkt eines Pfeils eine Antwort gefunden, doch die Schwere des Alters siegte über ihn: Nie hatte ihn ein so kurzes Gespräch derart erschöpft, das Herz tat ihm weh, und jeder Schlag hallte metallen in seinen Adern wider. Er fühlte sich alt, traurig und unnütz, er hatte das dringende Bedürfnis zu weinen und konnte nicht weitersprechen. Sie tranken die zweite Tasse in einem von Vorahnungen durchsetzten Schweigen aus, und als sie wieder sprach, war es, um eins der Mädchen zu beauftragen, ihr die Briefmappe zu bringen. Er wollte sie schon bitten, die Briefe doch zu behalten, da er mit Kohlepapier Durchschriften gemacht hatte, dachte dann aber, daß diese Vorsichtsmaßnahme kleinlich erscheinen könnte. Als er sich verabschiedete, schlug er vor, daß er am nächsten Dienstag zur gleichen Zeit wiederkommen könnte. Sie fragte sich, ob sie so willfährig sein sollte.
»Ich sehe nicht, was für einen Sinn so viele Besuche haben sollten«, sagte sie.
»Ich bin nicht davon ausgegangen, daß sie einen Sinn haben müßten«, sagte er.
Also erschien er am Dienstag wieder um fünf Uhr, ebenso an allen folgenden Dienstagen, und das ohne förmliche Anmeldung, da beiden die allwöchentlichen Besuche schon nach dem zweiten Monat zur festen Gewohnheit geworden waren. Florentino Ariza brachte englisches Teegebäck, kandierte Maronen oder griechische Oliven mit, kleine Köstlichkeiten, die er auf den Überseedampfern auftrieb. An einem Dienstag brachte er ihr einen Abzug des Fotos mit, das der belgische Fotograf vor einem halben Jahrhundert von ihr und Hildebranda aufgenommen und das Florentino Ariza für fünfzehn Centavos bei einer Postkartenversteigerung am Portal de los Escribanos erstanden hatte. Fermina Daza konnte sich nicht erklären, wie es dorthin gelangt war, und er erklärte es sich nur als ein Wunder der Liebe. Eines Morgens, als er in seinem Garten Rosen schnitt, fühlte er die unwiderstehliche Versuchung, ihr bei seinem nächsten Besuch eine mitzubringen. Es war ein schwieriger Fall in der Sprache der Blumen, da es um eine kürzlich verwitwete Frau ging. Eine rote Rose, Symbol flammender Leidenschaft, hätte sie in ihrer Trauer beleidigen können. Gelbe Rosen, die in einer gehobenen Sprache als Glücksblumen galten, brachten im gängigen Sprachgebrauch Eifersucht zum Ausdruck. Er hatte einmal von den schwarzen Rosen der Türkei gehört, die vielleicht am besten geeignet gewesen wären, doch er hatte keine auftreiben können,
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