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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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aus Europa noch nie gehört hatte. Wie immer auf ihn fixiert, besonders dann, wenn sie seine Geistesabwesenheit in der Öffentlichkeit bemerkte, hörte Fermina Daza auf zu essen und legte ihre irdische Hand auf die seine. »Denk nicht mehr daran«, sagte sie. Doktor Urbino lächelte ihr vom anderen Ufer der Ekstase zu und dachte nun erst wieder an das, was sie befürchtet hatte. Er erinnerte sich an Jeremiah de Saint-Amour, der zu dieser Stunde in seiner angemaßten Uniform eines Kriegers unter den anklagenden Kinderblicken der Porträtfotos in seinem Sarg aufgebahrt lag. Er wandte sich dem Erzbischof zu, um ihm von dem Selbstmord zu berichten, doch dieser wußte schon davon. Nach dem Hochamt war viel darüber geredet worden, und er hatte sogar ein Bittschreiben von Oberst Jeronimo Argote im Namen der Flüchtlinge aus der Karibik erhalten, der Tote möge doch in geweihter Erde bestattet werden. Der Erzbischof sagte: »Für mich war schon das Bittschreiben eine Respektlosigkeit.« In einem menschlicheren Ton fragte er dann, ob der Grund für den Selbstmord bekannt sei. Doktor Urbino antwortete ihm mit einem korrekten Begriff, den er in jenem Moment erfunden zu haben glaubte: Gerontophobie. Doktor Olivella, der sich seinen Tischnachbarn widmete, überließ diese einen Augenblick sich selbst, um sich in den Dialog seines Lehrmeisters einzuschalten, und sagte: »Es ist ein Jammer, noch auf einen Selbstmord zu stoßen, der nicht aus Liebe verübt wurde.« Doktor Urbino erstaunte es nicht, seine eigenen Gedanken in denen des Lieblingsschülers wiederzuerkennen. »Und, was noch schlimmer ist«, sagte er, »es geschah mit Goldzyanid.«
    Als er das sagte, spürte er, daß das Mitleid die Verbitterung über den Brief eingeholt hatte und er das nicht seiner Frau, sondern einem Wunder der Musik zu verdanken hatte. Dann erzählte er dem Erzbischof von dem weltlichen Heiligen, den er in den langsamen Abenddämmerungen am Schachbrett kennengelernt hatte, sprach davon, wie dieser seine Kunst dem Glück der Kinder geweiht hatte, sprach von seiner seltenen Gelehrsamkeit alle Dinge dieser Welt betreffend, von seinen spartanischen Gewohnheiten und war selbst überrascht über die Läuterung der eigenen Seele, die ihm auf einen Schlag erlaubte, den Freund vollständig von seiner Vergangenheit loszulösen. Sodann legte er dem Bürgermeister nahe, das Fotoplattenarchiv aufzukaufen, um die Bilder einer Generation zu bewahren, die außer auf ihren Fotos womöglich nie wieder glücklich sein würde und in deren Händen die Zukunft der Stadt lag. Den Erzbischof hatte es entsetzt, daß ein bekennender und gebildeter Katholik es wagte, an die Heiligkeit eines Selbstmörders zu glauben, war aber mit dem Vorschlag einverstanden, die Negative zu archivieren. Der Bürgermeister wollte wissen, wem man sie abkaufen müsse. Doktor Urbino brannte das Geheimnis auf der Zunge, er blieb jedoch standhaft und verriet nicht die heimliche Erbin der Archive. »Ich kümmere mich darum«, sagte er. Und seine Loyalität der Frau gegenüber, die er fünf Stunden zuvor verurteilt hatte, erlöste ihn. Fermina Daza merkte es und nahm ihm flüsternd das Versprechen ab, zur Beerdigung zu gehen. Aber selbstverständlich, sagte er erleichtert, das sei doch klar.
    Die Reden waren kurz und gefällig. Die Blaskapelle stimmte eine im Programm nicht vorgesehene volkstümliche Weise an, und die Gäste wandelten auf den Terrassen und warteten, ob jemand den Mut zum Tanzen aufbrächte, wenn Don Sanchos Kellner den Hof restlos entwässert hätten. Allein die Gäste des Ehrentisches blieben im Saal. Doktor Urbino hatte beim letzten Trinkspruch ein halbes Gläschen Kognak auf einen Zug geleert, und das wurde jetzt gefeiert, denn niemand konnte sich daran erinnern, daß er je so etwas getan hätte. Allenfalls trank er einmal zu einem exquisiten Gericht ein Glas guten Weines. Doch an jenem Nachmittag hatte sein Herz danach verlangt, und seine Schwäche wurde belohnt: Nach vielen, vielen Jahren hatte er wieder einmal Lust zu singen. Er hätte es zweifellos auch auf Drängen des jungen Cellisten getan, der sich erbot, ihn zu begleiten, wenn nicht plötzlich eines dieser neuen Automobile das Schlammfeld im Hof durchquert, die Musiker vollgespritzt und mit einer Entenhupe die Enten in den Ställen aufgestört hätte. Es hielt vor dem Portikus des Hauses, und laut lachend stiegen Doktor Marco Aurelio Urbino Daza und seine Frau aus, in jeder Hand ein mit Spitzentüchern zugedecktes Tablett.

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