Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Weitere Tabletts lagen auf den Notsitzen und sogar auf dem Boden neben dem Chauffeur. Es war der verspätete Nachtisch. Als der Applaus und die freundlichen Spottrufe verstummt waren, erklärte Doktor Urbino Daza, daß die Klarissinnen sie noch vor dem Unwetter um den Gefallen gebeten hätten, den Nachtisch mitzunehmen, er habe aber auf dem Camino Real kehrtgemacht, als ihm jemand gesagt habe, sein Elternhaus stehe in Flammen. Doktor Juvenal Urbino geriet in Angst, bevor sein Sohn noch fertig erzählt hatte. Doch seine Frau erinnerte ihn beizeiten daran, daß er ja selbst die Feuerwehr hatte rufen lassen, um den Papagei einzufangen. Aminta de Olivella strahlte und beschloß, das Dessert auch nach dem Kaffee auf den Terrassen zu servieren. Doktor Juvenal Urbino und seine Gattin aber verabschiedeten sich, ohne davon zu kosten, da bis zur Beerdigung kaum noch Zeit für seine geheiligte Siesta war.
Er hielt Siesta, allerdings kurz und unruhig, da er bei seiner Heimkehr hatte feststellen müssen, daß die Feuerwehrmänner fast so fürchterliche Verwüstungen wie ein Feuer hinterlassen hatten. Bei dem Versuch, den Papagei aufzuscheuchen, hatten sie mit den Hochdruckschläuchen einen Baum gerupft, und ein fehlgerichteter Strahl war durch die Fenster des ehelichen Schlafzimmers gedrungen und hatte Möbel und an den Wänden hängende Bilder unbekannter Ahnen irreparabel beschädigt. Auch die Nachbarn waren, als sie die Glocke des Feuerwehrwagens gehört hatten, herbeigeeilt, und wenn nicht noch schlimmeres Unheil angerichtet wurde, so nur, weil die Schulen sonntags geschlossen waren. Als die Feuerwehrleute merkten, daß sie den Papagei auch mit der ausgefahrenen Leiter nicht erreichen konnten, hatten sie begonnen, die Äste mit ihren Macheten abzuhauen, und nur durch das rechtzeitige Erscheinen von Doktor Urbino Daza wurde verhindert, daß sie den Mango bis auf den Stamm absäbelten. Sie hatten dann die Nachricht hinterlassen, daß sie um fünf Uhr zurückkämen, um den Baum gegebenenfalls mit Erlaubnis zusammenzuhacken, dazu waren sie in den Salon eingedrungen, hatten diesen verdreckt und einen türkischen Teppich, das Lieblingsstück von Fermina Daza, zerrissen. Ein unnötiges Mißgeschick übrigens, denn der allgemeinen Ansicht nach hatte der Papagei das Durcheinander genutzt, um über die Nachbarpatios zu entkommen. Doktor Urbino suchte ihn in den belaubten Kronen, bekam aber in der Tat in keiner Sprache eine Antwort, auch nicht auf Pfiffe und Lieder, er gab ihn also für verloren und legte sich kurz vor drei schlafen. Davor genoß er das flüchtige Vergnügen seines nach geheimen Gärten duftenden Urins, der vom lauwarmen Spargel gereinigt worden war. Die Traurigkeit weckte ihn. Nicht jene, die er am Morgen vor der Leiche des Freundes empfunden hatte, sondern dieser unsichtbare Nebel, der seine Seele nach der Siesta durchdrang und den er als göttliche Botschaft deutete, daß er jetzt seine letzten Nachmittage zu leben habe. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er sich der Größe, des Gewichts und des Zustands seiner inneren Organe nicht bewußt gewesen. Nach und nach, während er bei der täglichen Siesta mit geschlossenen Augen dalag, hatte er sie im Innern erfühlt, eins ums andere, er spürte sogar die Form seines ruhelosen Herzens, seine geheimnisvolle Leber, seinen hermetischen Pankreas, und er hatte entdeckt, daß selbst die ältesten Personen jünger waren als er, der einzige Überlebende der legendären Gruppenbilder seiner Generation. Als er seine ersten Vergeßlichkeiten bemerkte, griff er auf ein Mittel zurück, das einer seiner Lehrer am Medizinischen Institut empfohlen hatte: »Wer kein Gedächtnis hat, macht sich eins aus Papier.« Das war jedoch eine kurzlebige Hoffnung, denn es kam so weit, daß er vergaß, was die Erinnerungsnotizen, die er sich in die Taschen steckte, bedeuten sollten. Er lief durchs Haus auf der Suche nach der Brille, die er auf der Nase hatte, drehte noch einmal die Schlüssel um, nachdem er die Türen abgeschlossen hatte, und verlor beim Lesen den Faden, da er die Prämissen der Handlung vergaß oder die Beziehungen zwischen den Personen. Was ihn aber am meisten beunruhigte, war sein Mißtrauen dem eigenen Urteilsvermögen gegenüber. Er spürte, wie er nach und nach, auf einen unabwendbaren Schiffbruch zusteuernd, den Sinn für Gerechtigkeit verlor. Aus reiner Erfahrung, wenngleich ohne wissenschaftliche Grundlage, wußte Doktor Juvenal Urbino, daß die Mehrzahl der
Weitere Kostenlose Bücher