Die Liebe in den Zeiten der Cholera
tödlichen Krankheiten einen eigenen Geruch haben, keiner aber so spezifisch ist wie der des Alters. Er nahm ihn bei den aufgeschnittenen Leichen auf dem Seziertisch wahr, erkannte ihn selbst bei den Patienten wieder, die am geschicktesten ihr Alter verbargen, auch an seiner eigenen verschwitzten Kleidung und im wehrlosen Atem seiner schlafenden Frau. Wäre er nicht dem Wesen nach ein Christ von altem Schlag gewesen, hätte er vielleicht mit Jeremiah de Saint-Amour darin übereingestimmt, daß das Alter ein indezenter Zustand sei, dem beizeiten vorgebeugt werden müsse. Der einzige Trost, selbst für jemanden wie ihn, der ein guter Liebhaber gewesen war, war das langsame und barmherzige Verlöschen des Geschlechtstriebs: der sexuelle Frieden. Mit einundachtzig Jahren hatte er die nötige geistige Klarheit, um zu begreifen, daß ihn an diese Welt nur noch schwache Fäden banden, die bei einer einfachen Drehung im Schlaf schmerzlos reißen konnten, und wenn er sein Möglichstes tat, um sie zu erhalten, so aus Furcht, Gott in der Dunkelheit des Todes nicht zu finden.
Fermina Daza war damit beschäftigt, das von den Feuerwehrleuten zerstörte Schlafzimmer wieder instand zu setzen. Sie ließ ihrem Mann kurz vor vier sein tägliches Glas Limonade mit gestoßenen Eisstückchen bringen und erinnerte ihn daran, daß er sich für die Beerdigung umkleiden müsse. Doktor Urbino hatte an diesem Nachmittag zwei Bücher zur Hand: Der Mensch, das unbekannte Wesen von Alexis Carrel und Das Buch von San Michele von Axel Munthe. Letzteres war noch nicht aufgeschnitten, und daher bat er Digna Pardo, die Köchin, ihm das im Schlafzimmer vergessene Papiermesser aus Elfenbein zu holen. Als man es ihm brachte, las er jedoch schon in Der Mensch, das unbekannte Wesen auf der mit einem Briefumschlag gekennzeichneten Seite: Es fehlten nur noch wenige Seiten, bis er damit fertig war. Er las langsam, bahnte sich den Weg zwischen den Mäandern eines leichten Kopfwehs, das er auf das halbe Gläschen Kognak bei dem letzten Trinkspruch zurückführte. In den Lesepausen trank er einen Schluck Limonade und ließ sich Zeit beim Zerkauen eines Eisstückchens. Er hatte nur Strümpfe an, das Hemd ohne den falschen Kragen, und auf beiden Seiten des Hosenbunds hingen die grüngestreiften elastischen Hosenträger herunter. Der bloße Gedanke, sich für das Begräbnis umziehen zu müssen, war ihm zuwider. Bald hörte er auf zu lesen, legte das Buch auf das andere und begann sich ganz langsam im Korbschaukelstuhl zu wiegen. Durch seine Schwermut hindurch betrachtete er die Bananenstauden im schlammigen Hof, den gerupften Mangobaum, die fliegenden Ameisen nach dem Regen, den ephemeren Glanz des Nachmittags, wieder ein Tag, der für immer ging, weniger. Er hatte vergessen, daß er einmal einen Papagei aus Paramaribo gehabt und wie ein Menschenwesen geliebt hatte, als er ihn auf einmal hörte: »Prachtpapagei«. Er hörte ihn ganz nah, fast neben sich, und sah ihn dann auch gleich auf dem untersten Ast des Mangobaums. »Unverschämter Kerl!« schrie er ihn an. Der Papagei erwiderte mit gleicher Stimme: »Du bist unverschämt, Doktor.«
Der Arzt redete weiter mit ihm, ohne ihn aus den Augen zu lassen, während er sich sehr vorsichtig, um ihn nicht scheu zu machen, die Halbschuhe anzog, er steckte die Arme in die Hosenträger und stieg in den noch schlammigen Hof hinunter, den Boden mit seinem Spazierstock abklopfend, um nicht über die drei Stufen der Terrasse zu stolpern. Der Papagei rührte sich nicht. Er saß so tief, daß er ihm den Stock hinstreckte, damit er auf den Silberknauf steigen könne, wie es seine Gewohnheit war, doch der Papagei wich ihm aus. Er hüpfte auf einen Nachbarast, der etwas höher, aber leichter zu erreichen war, dort lehnte noch die Küchenleiter, die man vor der Ankunft der Feuerwehr geholt hatte. Doktor Urbino schätzte die Höhe ab und dachte, daß, um ihn zu packen, zwei Sprossen genügen müßten. Er stieg auf die erste, ein vertrautes Lied auf den Lippen, um die Aufmerksamkeit des mißtrauischen Tiers abzulenken, das nun den Text ohne Musik nachplapperte, sich aber mit seitlichen Schritten auf dem Ast entfernte. Mühelos stieg er auf die zweite Sprosse, hielt sich mit beiden Händen an der Leiter, während der Papagei das ganze Lied zu wiederholen begann, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Doktor Urbino stieg auf die dritte Sprosse und, weil er sich in der Höhe des Astes verschätzt hatte, gleich auf die vierte, klammerte sich
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