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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Gemeindekirche von Santo Toribio ausgestellt, stand nur, daß er der natürliche Sohn einer ledigen natürlichen Tochter sei, die Tránsite Ariza heiße. Auf dem Papier erschien der Name des Vaters nicht, der dennoch bis zu seinem letzten Tag heimlich den Unterhalt des Sohnes bestritten hatte. Durch diese Herkunft blieben Florentino Ariza die Türen des Seminars verschlossen, sie bewahrte ihn aber in der blutigsten Epoche unserer Kriege auch vor dem Militärdienst, da er der einzige Sohn einer Ledigen war. Jeden Freitag nach der Schule postierte er sich vor den Geschäftsräumen der Karibischen Flußschiffahrtskompanie und schaute in ein Buch mit Tierabbildungen, das sich schon vom vielen Durchblättern auflöste. Der Vater kam und ging, ohne ihn anzusehen, hinein, gekleidet in einen jener Tuchanzüge, die Tránsito Ariza später für den Sohn umarbeiten mußte, und mit einem Gesicht, das genau den Darstellungen des Evangelisten Johannes auf den Altarbildern glich. Wenn er nach vielen Stunden wieder herauskam, gab er ihm das Unterhaltsgeld für eine Woche und trug Sorge, nicht einmal vom Kutscher dabei gesehen zu werden. Sie sprachen nicht miteinander, nicht nur weil der Vater es nicht versuchte, sondern auch weil Florentino Ariza entsetzliche Angst vor ihm hatte. Eines Tages, als er sehr viel länger als sonst auf ihn gewartet hatte, gab ihm der Vater die Münzen und sagte: »Nimm und komm nie wieder.«
    Es war das letzte Mal, daß er ihn sah. Mit der Zeit sollte er dann aber erfahren, daß sein Onkel Leon XII., der etwa zehn Jahre jünger als sein Bruder war, Tránsite Ariza auch weiterhin das Geld gebracht hatte. Dieser hatte sich auch um sie gekümmert, als Ko Quinto an einer falsch behandelten Kolik starb, ohne irgendwelche schriftlichen Verfügungen zu hinterlassen oder die Zeit zu haben, zugunsten des einzigen Sohnes vorzusorgen: Er war ein Sohn der Straße. Das Drama Florentino Arizas während seiner Zeit als Schreiber der Karibischen Flußschiffahrtskompanie bestand darin, daß er seinen Hang zum Lyrischen nicht überwinden konnte, da er nicht aufhörte, an Fermina Daza zu denken. Er lernte es nie, etwas zu schreiben, ohne dabei an sie zu denken. Später, als man ihn auf andere Posten geschoben hatte, blieb ihm innerlich so viel Liebe übrig, daß er nicht wußte, was er damit anfangen sollte, und so schenkte er sie den schreibunkundigen Verliebten, denen er am Portal de los Escribanos kostenlos ihre Briefe verfaßte. Dorthin ging er gleich nach der Arbeit. Er zog sich mit seinen gemessenen Bewegungen den Gehrock aus, hängte ihn über die Stuhllehne, streifte sich die Ärmelschoner über, die Hemdsärmel sollten nicht schmutzig werden, knöpfte die Weste auf, um besser denken zu können, und munterte oft bis tief in die Nacht hinein die Hilflosen mit hinreißenden Briefen auf.
    Manchmal kam auch irgendeine arme Frau zu ihm, die Schwierigkeiten mit ihrem Sohn hatte, oder ein Kriegsveteran, der unbedingt seinen Pensionsanspruch geltend machen wollte, oder jemand, der beraubt worden war und seine Beschwerde bei der Regierung vorbringen wollte, doch so sehr Florentino Ariza sich auch bemühte, er vermochte sie nicht zufriedenzustellen, denn das einzige, womit er überzeugen konnte, das waren Liebesbriefe. Er stellte seinen neuen Kunden nicht einmal Fragen, es genügte ihm, ihre Augen zu sehen, um sich ihren Zustand zu eigen zu machen, und er füllte dann Bogen um Bogen mit überwältigender Liebe, alles nach der unfehlbaren Formel, dabei an Fermina Daza und nur an sie zu denken. Nach Ablauf des ersten Monats mußte er ein Vorbestellungssystem einführen, um nicht von den Wünschen der Liebenden überrollt zu werden. Seine liebste Erinnerung aus jener Zeit war die an ein schüchternes junges Mädchen, fast ein Kind noch, das ihn zitternd darum bat, einen soeben empfangenen, unwiderstehlichen Brief für sie zu beantworten, den Florentino Ariza sogleich erkannte: Er hatte ihn am Nachmittag zuvor selbst geschrieben. Er antwortete in einem anderen Stil, der dem Gefühl und dem Alter des Mädchens gemäß war, und mit einer Schrift, welche die ihre hätte sein können, denn er hatte für jede Gelegenheit und jeden Charakter eine eigene Schrift parat. Er schrieb den Brief und stellte sich dabei vor, was Fermina Daza geantwortet hätte, wenn sie ihn so geliebt hätte, wie jenes schutzlose Geschöpf seinen Verehrer liebte. Zwei Tage darauf mußte er die Antwort des Verliebten in der Schrift, dem Stil und in der

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