Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Not zu überleben und auch nicht aus einer vom Vater geerbten Dickfelligkeit erwuchs, sondern aus dem Ehrgeiz der Liebe, den kein Hindernis auf dieser oder einer anderen Welt hätte aufhalten können.
Die ersten Jahre waren für Florentino Ariza die schlimmsten. Man hatte ihn zum Schreiber der Generaldirektion ernannt, ein Posten, der ihm wie auf den Leib geschnitten schien. Lothario Thugut hatte Onkel Leon XII., dessen Musiklehrer er einmal gewesen war, empfohlen, dem Neffen Schreibarbeiten zu übertragen, da er unermüdlich und en gros Literatur konsumiere, wenn auch weniger von der guten als von der schlechtesten Sorte. Onkel Leon XII. nahm es mit der angeblich mangelhaften Qualität der Lektüre seines Neffen nicht so genau, da Lothario Thugut auch von ihm behauptete, er sei sein schlechtester Gesangschüler gewesen, obwohl er doch auf den Friedhöfen sogar die Grabsteine zum Weinen brachte. Jedenfalls hatte der Deutsche in einer Hinsicht recht, die er selbst nicht bedacht hatte, Florentino Ariza schrieb nämlich alles und jedes mit einer solchen Leidenschaft, daß sogar seine offiziellen Schriftstücke Liebesbotschaften zu sein schienen. Seine Frachtbriefe reimten sich, so sehr er sich auch bemühte, das zu verhindern, und seine Geschäftsbriefe hatten einen lyrischen Unterton, der ihre Autorität in Frage stellte. Der Onkel erschien eines Tages persönlich mit einem Packen Briefe bei ihm, die er nicht als seine eigenen hatte unterzeichnen mögen. Er gab ihm eine letzte Gelegenheit, seine Haut zu retten. »Wenn du nicht in der Lage bist, einen Geschäftsbrief zu schreiben, kommst du zum Müllsammeln auf die Mole«, sagte er.
Florentino Ariza nahm die Herausforderung an. Er machte die größten Anstrengungen, um sich die irdische Schlichtheit der Handelsprosa anzueignen, indem er Beispiele aus Notariatsarchiven mit ebensoviel Eifer nachahmte wie früher die Modedichter. Das war die Zeit, in der er seine freien Stunden am Portal de los Escribanos verbrachte und den schreibunkundigen Verliebten dabei half, ihre parfümierten Liebesbriefe zu verfassen, um sich die vielen Worte der Liebe, die in den Zollberichten keine Verwendung fanden, von der Seele zu schreiben. Nach sechs Monaten war es ihm jedoch trotz allem Einsatz nicht gelungen, seinem hartnäckig singenden Schwan den Hals umzudrehen. Daher gab er sich, als der Onkel Leon XII. ihn zum zweiten Mal zurechtwies, geschlagen, allerdings nicht ohne Hochmut. »Das einzige, was mich interessiert, ist die Liebe«, sagte er. »Nur schade«, sagte der Onkel, »daß es ohne Flußschiffahrt keine Liebe gibt.«
Er löste die Drohung ein, ihn zum Müllsammeln auf die Mole zu schicken, gab ihm jedoch sein Wort, ihn Sprosse um Sprosse auf der Leiter des beruflichen Erfolgs emporklettern zu lassen, bis er seinen Platz gefunden hätte. So geschah es. Florentino Ariza war von keiner Arbeit, so hart oder erniedrigend sie auch sein mochte, unterzukriegen. Selbst der elende Lohn demoralisierte ihn nicht, noch verlor er auch nur einen Augenblick lang die ihm eigene Gleichmut angesichts der Dreistigkeit seiner Vorgesetzten. Aber er war auch nicht unbedarft: Wer sich ihm in den Weg stellte, spürte bald die Folgen von Florentino Arizas verheerender Zielstrebigkeit, die sich, keinerlei Rücksicht kennend, hinter seinem hilflosen Auftreten verbarg. So wie Onkel Leon XII. es geplant und gewünscht hatte - Florentino Ariza sollte kein Geheimnis des Unternehmens verborgen bleiben -, durchlief dieser in dreißig Jahren alle Posten mit einer Aufopferung und Zähigkeit, die jeder Prüfung standhielten. Alle Arbeiten erledigte er erstaunlich sachkundig und verfolgte dabei jeden einzelnen Faden in jener geheimnisvollen Webkette, die so viel mit dem Handwerk der Poesie gemeinsam hatte, verdiente sich jedoch nicht die von ihm am meisten ersehnte Kriegsauszeichnung, nämlich einen, nur einen einzigen annehmbaren Geschäftsbrief verfaßt zu haben. Ohne es anzustreben, ohne es auch nur zu ahnen, gab er mit seinem Leben dem Vater recht, der bis zum letzten Atemzug immer wieder behauptet hatte, daß es weder hartnäckigere Steinmetze noch luzidere und gefährlichere Geschäftsführer gäbe als die Dichter und niemand einen größeren Realitätssinn habe als sie. Das berichtete zumindest Onkel Leon XII., der Florentino Ariza in den Mußestunden des Herzens gern von dessen Vater erzählte und ihm von diesem eher das Bild eines Träumers denn das eines Geschäftsmannes vermittelte. Er erzählte ihm,
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