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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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unterzuordnen. Der Onkel war noch darüber verärgert, wie Florentino Ariza die gute Stellung eines Telegraphisten in Villa de Leyva ausgeschlagen hatte, ließ sich dann jedoch von seiner Überzeugung leiten, daß die Menschen nicht immer an dem Tag geboren werden, an dem ihre Mütter sie zur Welt bringen, sondern daß das Leben sie dazu zwingt, sich noch einmal oder auch mehrere Male selbst zu gebären. Im übrigen war die Witwe des Bruders ein Jahr zuvor unversöhnt, doch ohne Erben, gestorben. Also stellte er den umherirrenden Neffen ein.
    Diese Entscheidung war typisch für Don Leon XII. Loayza. Unter der Schale des seelenlosen Geschäftsmannes verbarg sich ein genialischer Kauz, der fähig war, in der Wüste von La Guajira eine Limonadenquelle hervorsprudeln zu lassen oder auch einen Begräbniszug in Tränen zerfließen lassen konnte, wenn er herzergreifend In questa tomba scura sang. Mit seinem Lockenkopf und seinen Faunslippen fehlten ihm nur noch Leier und Lorbeerkranz, um dem brandstiftenden Nero der christlichen Mythologie zu gleichen. Die verbleibenden freien Stunden zwischen der Verwaltung seiner morschen Schiffe, die sich nur dank einer Nachlässigkeit des Schicksals noch über Wasser hielten, und der Bewältigung der von Tag zu Tag größer werdenden Probleme der Flußschiffahrt widmete er der Erweiterung seines lyrischen Repertoires. Er tat nichts lieber, als auf Beerdigungen zu singen. Er hatte die Stimme eines Galeerensklaven, keinerlei akademische Gesangsausbildung, doch eine erstaunliche Registerbreite. Man hatte ihm einmal erzählt, daß Enrico Caruso mit der bloßen Kraft seiner Stimme eine Vase zerspringen lassen konnte, und so versuchte Leon XII. über Jahre es ihm sogar bei Fensterscheiben gleichzutun. Seine Freunde brachten ihm die zartesten Vasen mit, die sie auf ihren Reisen durch die Welt auftreiben konnten, und richteten besondere Feste aus, damit er sich seinen Herzenswunsch erfüllen könne. Es gelang ihm nie. Im Donnerhall seiner Stimme verbarg sich stets ein kleiner Funke Zärtlichkeit, der die Herzen seiner Zuhörer springen ließ wie der große Caruso die Kristallamphoren, und das machte ihn auch auf Beerdigungen so begehrt. Außer bei einer, wo er den sinnigen Einfall hatte, When wake up in Glory zu singen, einen Trauergospel aus Louisiana von bewegender Schönheit, dann aber vom Kaplan, der kein Verständnis für diese lutheranische Einmischung in seine Kirche hatte, zum Schweigen gebracht wurde. So wurde Leon XII. Loayza zwischen Opernarien und neapolitanischen Serenaden dank seines kreativen Talents und seines unbesiegbaren Unternehmungsgeistes in der Blütezeit der Flußschiffahrt zu einem ihrer großen Männer. Wie seine beiden verstorbenen Brüder war er aus dem Nichts gekommen. Dennoch hatten alle drei das erreicht, was sie sich vorgenommen hatten, trotz des Makels, uneheliche Söhne zu sein, die obendrein nicht einmal anerkannt worden waren. Sie waren die Creme der sogenannten Ladentisch-Aristokratie, deren Tempel der Club de Comercio war. Doch selbst als er über die Mittel verfügte, um wie der römische Kaiser zu leben, dem er glich, wohnte Onkel Leon XII. mit seiner Frau und den drei Kindern, weil es beruflich bequemer war, in der Altstadt, und zwar so bescheiden und in einem so einfachen Haus, daß er nie den ungerechtfertigten Ruf, ein Geizhals zu sein, los wurde. Sein einziger Luxus war sogar noch einfacher: ein Haus am Meer, zwei Meilen von seinen Büros entfernt, mit nur sechs rustikalen Hockern möbliert, einem Krugschrank und einer Hängematte auf der Terrasse, in die er sich sonntags zum Nachdenken legte. Als jemand ihm vorwarf, reich zu sein, definierte er es besser als jeder andere: »Nein, nicht reich,« sagte er, »ich bin ein armer Schlucker mit Geld, und das ist nicht dasselbe.« Diese eigentümliche Wesensart, die jemand in einer Rede einmal als luziden Wahnsinn gepriesen hatte, befähigte Onkel Leon XII., auf einen Blick in Florentino Ariza das zu sehen, was weder zuvor noch je danach jemand in ihm sehen wollte. Von dem Tag an, da dieser mit seinem düsteren Äußeren und seinen nutzlosen siebenundzwanzig Jahren auf der Suche nach einer Anstellung in den Geschäftsräumen erschienen war, stellte er ihn mit der Härte eines Kasernenhofdrills auf die Probe, die den Tapfersten hätte brechen können. Es gelang ihm jedoch nicht, den Neffen einzuschüchtern. Worauf Onkel Leon XII. jedoch nie kam, war, daß Florentino Arizas Durchhaltevermögen nicht aus der

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