Die Liebe in Grenzen
Frau Bachmann « , sagte Hajo Albrecht zu ihr, während seine Augen mich prüften, » es gibt höfliche junge Menschen, warum müssen Sie das gleich wieder ins Lächerliche ziehen? «
Lena machte sich nichts aus der Rüge.
» Entschuldige, Katia « , sagte sie nur, dann wandte sie sich wieder ihrem Reitermagazin zu.
Auch Theo, der für die Visite extra noch einmal in die Mühle gekommen war und in einer hinteren Ecke saÃ, vertiefte sich in das Alsfelder Wochenblatt, statt der Besprechung zu folgen. Aber keiner der Anwesenden gab zu verstehen, dass es ihn störte. Der Professor war mir auf den ersten Blick gar nicht so unsympathisch, wie ich angenommen hatte. Und trotz Lenas offenkundiger Abneigung hatte ich auch nicht den Eindruck, dass die Visite Quatsch war, im Gegenteil: Carmen, Martin und sein Bruder machten sich ernsthaft Gedanken über den Stand der Entwicklung jedes einzelnen Bewohners. Es herrschte ein sachlicher Umgangston, den ich äuÃerst angenehm fand, und von schwelenden Auseinandersetzungen war kaum etwas zu merken.
» Muss diese Woche nicht der Behandlungsplan von Herrn Jaspersen abgezeichnet werden? « , fragte Hajo Albrecht.
» Der von Mischa ist ebenso erstellt « , bemerkte Carmen.
Dr. Albrecht nickte, zückte einen silbernen Kugelschreiber und unterzeichnete die ihm vorgelegten Papiere, nachdem er sie rasch überflogen hatte. Entweder liest er wahnsinnig schnell, oder es ist ihm ziemlich egal, was drinsteht, dachte ich. Dass Ersteres der Fall war, merkte ich unmittelbar darauf, denn er fragte so detailliert und einfühlsam nach Helmuts Fortschritten und MaÃnahmen zu seiner weiteren Stabilisierung, dass ich mein Bild vom kaltherzigen Technokraten im Arztkittel ebenfalls korrigieren musste.
Nach Helmut war Mischa an der Reihe. Auch bei ihm erkundigte sich Professor Albrecht nach dem Befinden und weiteren Entwicklungen seit seinem traumatischen Erlebnis. Er schien sich aufrichtig zu freuen, als Carmen nachdrücklich bestätigte, dass Mischa auf einem guten Weg sei.
Dann, nach zwanzig Minuten, piepte es in Dr. Albrechts Jackett. Er zog ein winziges telefonähnliches Kästchen aus der Tasche, blickte auf das Display und sagte im Gehen: » Notfall. Muss ich von euch noch etwas wissen? Nein? Bestens! « Dann, zu mir gewandt: » Frau Werner, ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zeit in der Goldbachmühle! «
Und schon war er abgerauscht.
Theo und Lena falteten synchron ihren Lesestoff zusammen und verlieÃen gleichfalls das Büro. Carmen, Martin und ich blieben zurück.
» Was ist mit Mischa passiert? « , fragte ich. » Von welchem traumatischen Erlebnis hat der Professor gesprochen? «
Martin sah mit einem Mal sehr müde aus.
» Mischas Trauma? Das ist eine von diesen Geschichten, die man eigentlich nicht hören will. Mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern war er auf dem Weg zu seiner Einschulung, und dann ist ein Lastwagen in das Auto hineingefahren. Die Feuerwahr brauchte zwei Stunden, um den Jungen aus dem Blechhaufen zu schneiden. Das Blut, mit dem er getränkt war, stammte aus der aufgerissenen Halsschlagader seiner älteren Schwester Lisa, unter der sie Mischa hervorgezogen hatten. âºHier lebt einerâ¹, soll der Feuerwehrmann geschrien haben. Die andere Schwester und die Mutter waren auch sofort tot gewesen. Es ist also nicht verwunderlich, dass Mischa bei allem, was Krach verursacht, sich schnell bewegt oder was ihn in irgendeiner Weise in die Enge treibt, die Kontrolle verliert. «
Martin kritzelte mit einem Stift auf seinem Block herum, unschlüssig, ob er noch etwas hinzufügen sollte.
» Wie ist es dann mit Mischa weitergegangen? « , fragte ich.
» Er tickte vollständig aus. Nicht mehr resozialisierbar, wie die Experten sagten. «
» Das klingt, als ob von einem wild gewordenen Pitbull die Rede wäre. «
» Den hätten sie gleich eingeschläfert. Bei Menschen geht das nicht so ohne Weiteres, die werden dann weggesperrt « , mischte sich Carmen ein.
Es gefiel mir nicht, dass sie so zynisch reagierte.
» Was bedeutete das für Mischa, er war doch noch ein kleiner Junge? «
» Nach dem Krankenhaus kam er in eine Einrichtung der Jugendhilfe, da sein Vater sich nicht in der Lage sah, für ihn zu sorgen « , antwortete Martin. » Der Junge saà entweder stumpf in der Ecke oder hat alles zerlegt, was ihm in die
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