Die Liebe in Grenzen
Quere kam. Dann übernahmen ihn diverse Kinder- und Jugendpsychiatrien, bis er bei meinem Bruder landete â und schlieÃlich hier. «
» Und seitdem passiert etwas bei ihm? «
» Auf jeden Fall. Zaghaft hat er angefangen, Kontakte zu knüpfen, am sozialen Leben teilzunehmen. Wir drängen Mischa zu nichts. Wir lassen ihm seine Freiheit, erlauben ihm, sich aus allen Situationen zurückzuziehen, die ihn ängstigen. Und wir geben ihm das, was er am dringendsten braucht: Verlässlichkeit und Ruhe, Ruhe, Ruhe. Stundenlang kann er im Garten sitzen, Käfer und Schmetterlinge betrachten, muss lediglich zweimal in der Woche bei Carmen zur Therapie erscheinen. Aber wenn er da nichts sagen will, darf er auch aus dem Fenster in den Wald starren und darauf warten, bis die Stunde vorbei ist. «
» Das ist alles? «
» Das ist viel « , bemerkte Carmen. » Seit Wochen hat er sich nicht mehr selbst verletzt, ab und zu lacht er sogar. Er hat sich mit Konrad angefreundet, beginnt auch mit den anderen zu sprechen. «
» Wie verletzt er sich denn selbst? «
» Er kratzt sich die Armbeugen wund bis aufs Fleisch. Hast du die Narben nicht bemerkt? Mischa ist derjenige von den Mühlenbewohnern, der die denkbar schlechteste Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben als erwachsener Mann hat. Schlechter noch als Ada oder Helmut. Mit entsprechend formulierten Berichten an den Stiftungsrat wollen wir ihn aber möglichst lange im Programm halten. «
Carmen schob resolut ihre Unterlagen zusammen, und Martin gab mir mit einem Handzeichen zu verstehen, dass das Gespräch für heute beendet sei. Schweigend gingen wir auseinander.
Die nächste Visite, eine Woche später, lief ähnlich ab, nur dass keine Behandlungspläne zu besprechen waren und Professor Albrecht sich bereits nach zehn Minuten verabschiedete. Weil Martin und Carmen noch einen Termin in Alsfeld hatten, fand ich mich auf einmal allein im Erzieherbüro wieder. Die bezahlten Lebensmittelrechnungen sollte ich nach Datum in den entsprechenden Ordner heften. Nachdem ich das erledigt hatte, wollte ich ihn wieder ins Regal stellen, dabei bemerkte ich, dass eine Schublade des Registraturschranks, der sonst immer verschlossen war, einen Spalt breit offen stand. Du bist Teil des Teams, dachte ich und brachte mein schlechtes Gewissen so weit zum Schweigen, dass ich die Lade ganz aufzog. Darin entdeckte ich die Krankenakten, alphabetisch sortiert. Unter dem Buchstaben R waren mehrere dicke Mappen eingestellt, die allesamt die Aufschrift VON REICHENBACH , K. trugen. Ich nahm sie heraus, las und las und konnte nicht aufhören, obwohl die Stimmen, die mir sagten, dass ich etwas Verbotenes und Unentschuldbares tat, immer lauter wurden.
Was hatten sie ihm angetan? Wogegen hatte Konrad gekämpft, als er Mitschüler terrorisiert, Zimmereinrichtungen zerstört und Türen eingetreten hatte? In einer zweiten Pappmappe fand ich einen dicken Stapel mit Schreibmaschine dicht getippter Bogen. Dem aufwendig gestalteten Briefkopf zufolge waren es Schreiben von Konrads Vater an Professor Albrecht. Die Antworten waren nicht mit abgeheftet, aber ich bekam dennoch eine Ahnung, wo das eigentliche Problem lag: Graf Erik von Reichenbach hatte seinen einzigen Sohn, seitdem er auf der Welt war, als funktionsgestörtes Mängelexemplar angesehen. Darüber hatte er regelmäÃig mit seinem Jugendfreund, dem Psychiater Albrecht, korrespondiert. Bereits an der Wochenbettdepression der Gräfin wollte er dem Säugling die Schuld geben, desgleichen an all ihren » Gemütserkrankungen « während der folgenden Jahre. Das Kleinkind sei fortdauernd und unnatürlich verschlossen gewesen, habe die Mutter ignoriert, nicht auf ihre Ansprache reagiert, man könne sich doch vorstellen, was das im Herzen einer Frau anrichte. Auch das unentwegte Zeichnen des Sohnes betrachtete der Graf als Ausdruck einer krankhaften Charakterschwäche. Von unzähligen Akten der Zerstörung war die Rede, teilweise minutiös aufgeführt: » Heute zwei Vasen, ein Tischtuch, Mutters Rosenbeete, der Kanarienvogelkäfig ⦠«
Der Junge musste jedenfalls weg. Erst wurde er in ein Internat geschickt, und nachdem er dreimal von dort abgehauen und wieder zu Hause aufgetaucht war, brachten sie ihren Sohn in eine geschlossene Einrichtung. Dass der Elfjährige seinen Eltern nicht zuzumuten sei, von ihm gar eine akute Bedrohung ausging,
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