Die Liebe ist eine Insel
Schauspieler in Molière-Kostümen. Die Konkurrenz ist groß. Flyer verteilen, erzählen, sich verkaufen. Damien mag das gar nicht.
»Wir haben keine Wahl«, sagt Julie.
Die Place de l’Horloge ist schwarz von Menschen. Die streikenden Theatergruppen gehen auf sie los. Drohungen werden laut. Julie fühlt sich unbehaglich, sie versteht ihren Zorn, aber sie hat auch große Lust zu spielen. Auf die Bühne gehen, Nuit rouge zeigen, das reizt sie, und sie versucht es ihnen zu erklären.
Die Antwort sind laute Trommelwirbel.
Sie beschließen, ins Theater zurückzukehren.
Die Truppe, die das Vaudeville spielt, ist noch auf der Bühne. Im Saal nur drei Zuschauer.
Als sie gehen, lassen sie ihre Requisiten im Gang stehen, ein Haus aus Pappe, eine große Sonne und ein lebendiges Huhn im Käfig. Das Huhn stinkt nach Federn und Kot.
Marie sieht sie weggehen. In ein paar Stunden wird sie im Zuschauerraum des Chien-Fou sitzen. Sie wird den Worten ihres Bruders lauschen. Seit Wochen wartet sie darauf.
Paul hatte oft gesagt, du musst Träume haben, die wie große Passagierdampfer sind. Dann hatte er Marie bei der Hand genommen, und sie hatte das Gefühl gehabt, dass ihr niemals etwas Schlimmes zustoßen könnte.
D rei Männer der Stadtreinigung rauchen in dem Gässchen im Schatten der Mauer. Die Große Odile klappt den Fensterladen zur Seite, die Demonstranten sind ganz in der Nähe, sie hört ihr Trommeln. In die Rue des Bains verirrt sich nie jemand, der Asphalt ist löchrig, es gibt nichts zu sehen, kein Theater, keine Läden. Man muss schon gezwungen sein. Oder sich verlaufen.
Odile seufzt.
Die Akazie hat Durst, ihre Blätter werden gelb. Jeff sagt, man müsse Tausende Liter Wasser fließen lassen, nur um ihre Wurzeln zu durchfeuchten.
Sie dreht sich zu Odon um.
Ihr Bruder sitzt am Tisch. Er hat einen Riesenhunger und verschlingt die Auberginen und die Pastete aus dem Kühlschrank. Sie sieht ihm beim Essen zu.
Die Jungs sitzen auf dem Sofa und schlafen in der Hitze. Der Fernseher läuft ohne Ton. Alles, was Odile vom Festival sehen will, sieht sie auf dem Bildschirm, oder Odon erzählt es ihr.
»Kommst du heute Abend in die Vorstellung?«, fragt er.
»Warum? Spielt ihr etwa?«
»Ja, wir treten wieder auf.«
Odile ist überrascht.
»Die ganze Stadt streikt, und du nicht?«
Odon verspannt sich. Nur hundert Theatergruppen von mehr als sechshundert!
»Wir sind nicht die Einzigen.«
»Ja, aber du …«
»Nerv mich nicht!«
Er zieht die Pastete zu sich, stößt sein Messer hinein und holt ein breites Stück aus der Terrine, das er auf dem Brot zerdrückt.
»Also, kommst du?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Du weißt doch, ich bin zu blöd dafür, das ist nichts für mich.«
Odon zuckt die Achseln.
»Das Theater ist für alle«, sagt er.
»Für manche mehr als für andere, außerdem habe ich kein Kleid …«
Die Zeitung liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Ein Bleistift, ein Radiergummi. Das Kreuzworträtsel ist teilweise ausgefüllt. »Japanische Erleuchtung mit sechs Buchstaben.« Odile hat réveil geschrieben.
Odon radiert.
»Es ist völlig egal, was du anziehst«, erwidert er schließlich.
Sie beugt sich über seine Schulter.
»Warum radierst du das aus?«
»›Japanische Erleuchtung‹ ist satori … Deswegen bist du nicht weitergekommen.«
Er überprüft die anderen Wörter.
Ihre Unterhaltung mischt sich in das langsame Atmen der Jungs.
»Du solltest wenigstens auf den Platz gehen.«
»Und was soll ich da?«
»Einen Kaffee trinken, die Leute beobachten … Es gibt Straßenaufführungen.«
Sie leert den Wäschekorb in die Trommel der Waschmaschine, schließt die Tür und lässt das Programm laufen.
Sie dreht sich um, die Hände über dem Bauch gefaltet.
»Warum musst du immer so hartnäckig sein?«
»Ich träume von einer besseren Welt«, sagt er und zündet sich eine Zigarette an.
»Eine Welt, in der alle ins Theater gehen? Man kann nicht für die anderen träumen.«
Er steht auf und öffnet den Fensterladen einen Spalt.
Doch, kann man, denkt er.
Odile betrachtet ihn. Er ähnelt seinem Vater, die gleichen breiten Schultern, die etwas plumpe Gestalt.
»Jeff will mit Flügeln und Leierkasten auf dem Vorplatz auftreten«, sagt sie.
Odon bläst den Rauch durch den Spalt des Fensterladens. Seit einiger Zeit erträgt Jeff die Einsamkeit nicht mehr.
»Warum nimmst du ihn nicht wieder bei dir auf?«
Er hört seine Schwester seufzen.
Zwischen Jeff und ihr gab es eine Liebesgeschichte, die
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