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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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oder es so lange mit der Kette bearbeiten sollst, bis –
    Der Stein flog. Er traf die Hausmauer, streifte den Sockel der Figur und blieb bewusstlos im Staub liegen. Ein dumpfer Augenblick Stille.
    – Wie schwer ist es eigentlich, so ein großes Ziel zu treffen?, explodierte Lea. Das war Absicht, oder? Du hast absichtlich danebengeworfen!
    – Nein, hab ich nicht. Mein Augenmaß –
    – Ach, erzähl mir doch nichts! Du hast gedacht, sokönntest du dich an mir vorbeischwindeln, aber so krank bin ich nicht, dass ich das nicht merke. Ah, verdammter Feigling, weinerlicher, widerlicher –
    Sie schritt rasch über den Rasen zum Stein, hob ihn auf und schleuderte ihn auf das linke Knie des Kindes. Der Stein hinterließ eine kleine Mulde.
    Kirill wandte sich zum Gehen. In die allgemein als vollkommen empfundene Form stand auf der Tafel. Während er ging, lauschte er angestrengt, aber die schlimme Tracht Prügel, die Lea dem Kind zur Strafe für seine Feigheit verpasste, blieb wohl aus oder geschah vollkommen lautlos.

    Bei Jules hing neuerdings eine große Karte der Stadt im Lokal. Mit einem Leuchtstift hatte jemand einzelne Bereiche auf der Karte eingekreist oder mit einem Pfeil gekennzeichnet. In der Mitte, am Rande eines großen grün schraffierten Bereichs, befand sich ein dickes X.
    Kirill deutete auf das X.
    – Was ist das da?
    – Hm?
    – Das Ding da.
    – Eine Karte, sagte Jules.
    – Ah. Und warum hängt die da?
    – Ach, was weiß ich. Kunst.
    – Warst du schon mal dort?
    – Wo?
    – Da.
    – Ach, na ja. Ist nichts für mich, glaube ich. Ich bin mehr der Feuer-Typ.
    – Feuer-Typ?
    – Ja, ich zünde die Leute lieber an, als mit ihnen Kunst zu machen.
    – Vernünftig, sagte Kirill.
    Und etwas später, als er ein sehr altes Lied aus den Lautsprechern des Lokals hörte, rief Kirill:
    – He, mach das lauter, das ist gut. Die Nummer.

    Er näherte sich dem Ende der Straße. Der Morgen war friedlich und kühl, wie das Innere eines Doms. Ein paar Sterne standen noch über der Stadt, aber ihr Licht war unstetig und flackernd. Bald würden sie sich auflösen. Er fragte sich, wie viele Menschen schon in ähnlichem Zustand hierhergekommen sein mochten, als Pilger ihrer Wut, zu Tode gedemütigt von der Kunstbegeisterung, die die Stadt erfasst hatte. Vielleicht war ja gerade das der Sinn des Lehmklumpens da unter den Scheinwerfern. Seine Auslöschung durch einen von ihr Verwundeten.
    Die Uhr auf seinem Handgelenk, stellte er fest, war auf mikroskopische Größe geschrumpft. Er schloss die Augen, der Schwindelanfall ging vorüber. Er atmete ein paar Mal tief durch.
    Als Schüler hatte er einmal in einem Aufsatz über das Problem der Unterdrückung der Frau eine kleine Entdeckung beschrieben, die er im Schulhof gemacht hatte. Natürlich nicht nur im Schulhof. Die Sache war folgende: Gib einem Mann einen Baseballschläger in die Hand, und lass ihn damit ein Auto zerschlagen, die Scheiben, die Karosserie, alles, lass ihn die Reifen aufstechenund zuletzt auch noch die Rückspiegel wie Segelohren abhacken. Hinterher wird er schnaufen, vielleicht etwas müde sein, aber er ist im Angriffsmodus, ein Kämpfer, ein Krieger. Fängst du jetzt mit ihm Streit an, ist er imstande und bringt dich an Ort und Stelle um. Gibst du hingegen einer Frau denselben Baseballschläger in die Hand und die gleichen Anweisungen, wird sie sie achselzuckend ausführen und hinterher fragen: Und? Wozu das Ganze? Er versuchte, sich zu erinnern, welche Note er auf seine schlaue Beobachtung bekommen hatte. Es fiel ihm nicht mehr ein.
    Er blickte das Kind an.
    Dahin zog es also Lea jede Nacht, sie und ihren Freund, gegen den er keine Chance hatte.
    Oft hatte er sich diese Szene vorgestellt. Er hatte davon geträumt, auch heute Nacht. Der erste Schlag an den Kiefer war immer der leichteste – und meistens fiel dann etwas Kleines vom Kopf des Kindes und klatschte gegen die Wand. Die Augen oder die Nase oder die Schädeldecke. Und voller Entsetzen starrte Kirill auf das kleine, summende Gehirn im Kopf der Lehmfigur. Dann griff er in seine Hosentasche und holte einen Oktopus hervor, ein kleines, zappeliges, fettglänzendes Ding. Den Oktopus setzte er der Figur direkt ins Gehirn. Sofort begann der Oktopus, sich mit kleinen schaufelnden Bewegungen seiner Tentakel in die graue Masse des Gehirns einzuarbeiten. Bald schaute nur mehr sein Däumlingskopf daraus hervor und erinnerte an eine aus der Vorhaut geschlüpfte Eichel. An diesem Punkt begannen seine Lider zu

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