Die Lieben meiner Mutter
Flüchtlinge und Soldaten. Hinzu kommt, dass sich Heinrich, der als Funker eingezogen ist, und die Mutter mit ihren Kindern in dieser Zeit ständig hin und her bewegen. Sie schicken ihre Briefe jeweils an zwei oder drei Adressen in der Hoffnung, dass wenigstens einer den Adressaten erreicht. Diese Umstände mögen die Mutter dazu veranlasst haben, auch ihre Briefe an Andreas mehrfach, bzw. in verschiedenen Versionen, abzufassen.
Aber wichtiger als die Ungewissheit über die Zustellung ihrer Briefe ist der Mutter etwas anderes. Ihre Bewunderung für den schon halbwegs berühmten Mann, dem sie unendliche Talente zutraut, nötigt sie, ihre Gefühle vorzuformulieren, bevor sie sie ins Reine schreibt. Obwohl sie an ein Du gerichtet sind, handelt es sich öfter um Entwürfe ohne Adressaten, um Selbstgespräche, in denen sie durch das Schreiben Halt im Sturm ihrer Leidenschaften sucht. Viele, wenn nicht die meisten dieser Briefe hat sie offenbar nie zur Post gebracht. Warum aber auch diejenigen Briefe, auf die sie eine Antwort erhalten hat, nach ihrem Tod bei ihrem Mann und schließlich in meinem Schuhkarton gelandet sind, bleibt offen.
Andreassteht in den Kriegsjahren erst am Beginn seiner Karriere. Als junger Regisseur muss er in Frankfurt und Wuppertal mit Operetten wie »Schwarzer Peter«, »Vetter von Dingsda« und »Polenblut« für die Unterhaltung des breiten Abonnement-Publikums sorgen. Aber schon früh geht ihm der Ruf eines Regisseurs voraus, der von seiner Aufgabe besessen ist und von seinen Mitarbeitern das Gleiche verlangt wie von sich selber: bedingungslose Hingabe an die Arbeit.
Die Fotos zeigen einen mittelgroßen, gedrungenen Mann auf der Probebühne, der nie lacht – meist mit Anzug und Krawatte, seltener mit einer Weste oder Strickjacke über dem weißen Hemd. Das dunkle Haar ist straff nach hinten gekämmt und entblößt die großen Ohren, die Augen liegen tief unter buschigen Augenbrauen. Die Unterlippe über dem breiten vorstehenden Kinn ist leicht nach vorne gestülpt und verleiht dem Gesicht etwas Unnachgiebiges, Energiegeladenes. Einzig die vorspringende, etwas zu lange Nase widerspricht dem Eindruck von Strenge, ja sogar Verbissenheit – sie endet in einem lustigen, nach oben zeigenden Zipfel und wird später ein bevorzugtes Objekt von Karikaturisten. Und noch ein anderes Merkmal stört die Attitüde von unangreifbarer Autorität. Es gibt kaum ein Foto des Regisseurs auf der Probebühne, auf dem er nicht mit Armen und Händen durch die Luft rudern würde. Beim Atmen wie beim Sprechen scheint er ständig seine Hände zu Hilfe genommen zu haben – was der ganzen, sonst eher steifen Figur etwas Italienisches, ja Verspieltes und Tänzerisches mitteilt. Immer wiederspricht die Mutter in ihren Briefen von seinen »guten«, seinen »vertrauten« Händen.
Dem Sohn fällt beim Betrachten der Fotos noch etwas anderes auf: die unbestreitbare Ähnlichkeit zwischen Andreas und Heinrich. Im Profil jedenfalls, wenn man Andreas’ wuchtiges Kinn abdeckt und sich auf das zurückgekämmte Haar, die Stirn, die starken Augenbrauen und die tief liegenden Augen konzentriert, wirken die beiden wie Brüder. Die starre aufrechte Haltung scheint einem damals gültigen Männerideal von Respektverbreitung zu folgen und weckt die Erinnerung an den väterlichen Stoß in meinen Rücken und die Ermahnung: Halte dich gerade, Junge! Andere Ähnlichkeiten, die man nicht sehen kann, erschließen sich aus den Lebensläufen. Beide Männer sind im selben Jahr geboren, sind also vier Jahre jünger als die Mutter. Beide sind an der Oper tätig, Andreas nach dem Krieg mit rasant zunehmendem, Heinrich mit abnehmendem Erfolg, wobei Andreas zuweilen als Dienstherr von Heinrich in Erscheinung tritt. Beide leiden den größeren Teil ihres Lebens unter Asthma und sterben kurz nacheinander. Beide gelten einander bis zum Tod der Mutter als beste Freunde.
Später scheint Andreas die Nähe zu seinem alten Freund eher lästig gewesen zu sein. Paul, mein jüngster Bruder, den es nach dem Studium ans Theater zog, erinnert sich, dass der Vater ihn Andreas einmal vorstellte. Der inzwischen weltberühmte Mann habe für den Besuch und das Gespräch mit den beiden ein bestenfalls höfliches Interesse gezeigt.
DieLiebesbriefe der Mutter lassen keinen Zweifel daran, dass Andreas für sie der Mann ihrer Träume ist. Erstaunlich bleibt, wie verhalten sie – angesichts ihrer sonstigen Rückhaltlosigkeit – von ihren sexuellen Offenbarungen spricht.
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