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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Auf diesem Gebiet bleibt sie ganz den sprachlichen Konventionen ihrer Generation verhaftet. Einmal redet sie von den gefährlichen Dingen der Liebe, die sie erst durch Andreas kennengelernt habe. Und wenn sie von seinen guten Händen schwärmt, sind damit sicher nicht nur keusche Berührungen gemeint. Soweit sie überhaupt auf Körperliches Bezug nimmt, nennt sie allenfalls den Atem des Geliebten und seine Hände. Warum redet sie immer nur von ihrem Beglücktsein und ihrem Wunsch, ihn zu beglücken, wenn sie ihr Begehren meint? Von ihrem Wunsch, seiner unruhigen Seele eine Heimstatt zu geben , wenn sie nicht mehr weiß, wohin mit ihrer Lust?
    Davon zu schreiben war damals Männersache. Aber haben nicht schon in jener Zeit auch Frauen wie Anaïs Nin ganz offen über den Tumult ihrer körperlichen Begierden geschrieben? Wenn man die Briefe der Mutter liest, könnte man meinen, man habe es – in vertauschten Rollen – mit einer späten Form des Minnesangs zu tun.
    An dieser Stelle meldet sich Gisela Deus mit einem Einwand zu Wort. Sie meint, ich würde die Geschichte der Mutter mit Andreas überschätzen. Die beiden hätten wahrscheinlich in all den Jahren nur ein paar Mal miteinander geschlafen. Eine Frau, die so stark von ihrer Sehnsuchtund ihren Träumen lebe wie die Mutter, könne jahrelang von einer großen Glückserfahrung zehren. Andreas, die große Liebe, sei vor allem eine Projektion der Mutter gewesen, in die sie sich gerettet habe, um sich vor dem Absturz in ihre wiederkehrenden Depressionen zu retten.
    Ich widerspreche. Sollten die ungeheuren Anstrengungen der Mutter, ihren Geliebten mitten in den Wirren der Flucht zu treffen, ihn zu beglücken und durch ihn beglückt zu werden, vor allem auf einer Phantasie beruhen? Oder wollte Gisela Deus mir ein tröstliches Bild von der Mutter nahelegen, von einer Frau, die ihren Mann nie wirklich betrogen und sich in eine Liebesgeschichte hineingesteigert habe, die weitgehend nur in ihren Träumen existierte? Das Bild einer einsamen, ständig überforderten Mutter, die sich dem Freund ihres Mannes nur in seltenen Glücksmomenten hingegeben habe?
    Eine Weile debattieren wir über den Begriff »Depression« und was er vor siebzig, achtzig Jahren wohl bedeutet habe. Vor allem stört mich an dem Wort die Aura des Krankhaften, der Ausweglosigkeit, die es einem Leben aufstempelt. War denn die Depression, wenn wir bei diesem Begriff bleiben wollen, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren nicht ein Massenschicksal? Betraf es nicht Zehntausende von Müttern, die mit ihren Kindern durch das zerbombte Deutschland irrten? Am Ende will ich mich von meiner Sicht nicht abbringen lassen: Aus dem inständigen, poetisch überhöhten Liebeswerben der Mutter sprechen eine Sehnsucht,ein Schmerz und eine Verfallenheit, wie sie nur durch eine überwältigende seelische und körperliche Glückserfahrung entstehen konnte.
    Andreas, der über alles Geliebte und Verehrte, wird sich nicht ganz klar darüber gewesen sein, auf wen und was er sich da einlässt. Er nimmt, was für die Mutter ein Naturereignis ist, als eine von vielen Gelegenheiten, die sich ihm bieten. Wo immer er inszeniert, ist er von verliebten Frauen umgeben. Als Theatermann hat er Sinn für das Ungewöhnliche und Dramatische des Seitensprungs mit einer Mutter, die alle drei Jahre ein weiteres Kind auf die Welt bringt. Er fühlt sich von der Bedingungslosigkeit der ihm angetragenen Liebe geschmeichelt und wundert sich gleichzeitig über die Entschlossenheit dieser Geliebten, die so genau weiß, dass sie für ihn bestimmt ist. Von Qual jedoch will er nichts hören. Als Kenner und Regisseur von Verdi- und Puccini-Opern hat er eine Schwäche für große Gefühle, aber er inszeniert sie lieber, als ihr Objekt zu sein.
    Immer wieder wird Andreas von Gewissensbissen geplagt. Er will ehrlich mit der Geliebten sein, versucht ihre Ansprüche zu mäßigen, indem er ihr die Grenzen seiner Bereitschaft zeigt. Er fühle sich ihr gegenüber in einer Schuld, die er nicht abtragen könne, gesteht er ihr. Sie sei ihm so nah und so notwendig geworden, erweise sich als so wach für alles, was ihn bedränge, dass ihn nur eine spontan erwachende Leidenschaft, wie sie ihn neulich zu seiner Frau überkam, von der Einsicht der notwendigen,vielleicht einzig richtigen Verbindung mit dir für eine Weile habe abbringen können. Er könne und müsse ihr dies alles sagen. Es sei der notwendige Verrat , den er derzeit an seiner Frau begehen müsse, in dem

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