Die Lieben meiner Mutter
sicheren Gefühl, von der Geliebten in dieser Tiefe erkannt zu werden.
Er macht ihr Hoffnung auf eine engere, eine reguläre Zusammenarbeit, sobald er einmal ein Theater leite. Aber das sind Versprechen auf eine ferne, kaum vorstellbare Zukunft. In den letzten Kriegsmonaten ist er von der Wehrmacht zur Ausbildung nach Küstrin geschickt worden, wird aber wegen eines heftigen Asthmaanfalls – kurz bevor die russischen Panzer seine Stellung überrennen – mit dem letzten Zug, der über die Oder fährt, über Berlin nach Bad Wörishofen gebracht. Dort organisiert er bunte Abende für verletzte Offiziere.
Nach dem Krieg nimmt er seine Arbeit an der stark zerstörten Hamburger Staatsoper auf und setzt dort einen neuen Regiestil durch, der für eine ganze Generation von Opernmachern prägend sein wird: Fort mit allem Schwulst, Beschränkung auf das optisch Wesentliche aus dem Geist des Kunstwerks! Für das traditionelle Opernpathos hat der junge Regisseur nicht viel übrig und ironisiert es lieber, als ihm freien Lauf zu lassen. Auch die Rolle des Regiedespoten ist ihm fremd, er setzt auf die Mitarbeit des von ihm geschaffenen Ensembles. Ihm gefällt Caspar Nehers Experimentier-Bühne am Gänsemarkt, die aus der Not der Zerstörung eine neue Theatererfahrung macht: Die Zuschauer und dieSänger auf der Bühne haben kaum Abstand voneinander und sind in eine familiäre Nähe zusammengedrängt. Hier kann Andreas sein Talent für Improvisation entfalten; nicht umsonst hat er als Student in einer Berliner Bar mit seinen Jazz-Improvisationen auf dem Klavier ein Zubrot verdient.
Kein Zweifel, auch Andreas geht mit einem Panzer durch die Welt, der ihn gegen die Wahrnehmung der allgegenwärtigen Zerstörung und gegen die Drohung schützt, dass das Schlimmste jederzeit passieren kann– die Vernichtung von allem, was ihm lieb ist, die Auslöschung der eigenen Existenz. Aber die Legierung seines Panzers gehorcht einer anderen Formel. Es ist nicht seine Liebe für die Mutter, die ihn schützt. Anders als sie kann er andere Menschen mit seiner Kraft anstecken, kann ihrem erschütterten Lebenswillen eine Aufgabe, eine Mission vor die Augen stellen. Und er zieht sie an wie ein Magnet, Männer wie Frauen verfallen ihm und seinen sprechenden Händen. Er inszeniert drei, vier Opern im Jahr, er erschöpft sich in seiner Arbeit, sodass sich seine Geliebte immer wieder um seine Gesundheit sorgt.
Denk doch, daß es zum Schluss ganz unwichtig ist, ob du 100 oder 150 Inszenierungen zustande gebracht hast – deine Arbeit wird als Gesamtheit dastehen, und wenn du nur 4 gemacht hättest! Laß dir doch etwas Ruhe. Du brauchst sie!
Nach dem Krieg erinnert sie ihn einmal an sein Versprechen zur Zusammenarbeit, da er ja nun endlich ein großes Theater leite. Er trifft sie, er liebt sie, aber stelltsie nicht an, er reagiert nicht einmal auf ihre Frage.
Haben die Ehegatten des Liebespaars, haben Heinrich und Gertrud, die Frau von Andreas, von der Affäre nichts gewusst? Haben sie irgendeinen Versuch unternommen, das Verhältnis der beiden zu unterbinden?
Für die Mutter scheint zur totalen Offenheit nie eine Alternative bestanden zu haben. Für sie ist ihre Leidenschaft etwas Gegebenes, mit dem alle, die ihr nahe sind, zurechtkommen müssen. Sie will ihr Gefühl für Andreas nicht durch Ausreden und Heimlichkeiten beschmutzen. Der Krieg, die Bomben, die Gefahr jederzeitiger Vernichtung und die – seit seiner Mobilisierung – ständige Angst um ihren Mann können ihrer Forderung nach strikter Offenheit nichts anhaben.
Tatsächlich hat sie Heinrich von Anfang an das Wissen über ihre Liebe zu seinem besten Freund zugemutet, ja sie unterrichtet ihn über den Verlauf dieses oder jenes Treffens – allerdings vorzugsweise dann, wenn es einen unglücklichen Ausgang genommen hat. So auch über eine Begegnung im Herbst 1944.
Bei Andreas, berichtet sie ihrem Mann, sei die Spannung weg gewesen, wohl nach einer Aussprache mit seiner Frau. Bei ihr durch ihren letzten Besuch bei Heinrich. Du siehst, es fehlt auf beiden Seiten an Spontanem, kannst also ganz beruhigt sein. Und fährt ganz unbefangen fort, dass sie nach dieser missglückten Begegnung immer noch traurig sei, weil sie schon Andreas’ Reaktion voraussehe: wieder einmal ein langes Schweigen. Siebittet Heinrich um Verständnis für ihren Zwiespalt.
So beglückt ich war und bin über die Nähe zu dir, so traurig war ich über das Fehlen der Nähe zu Andreas. Beides geht wohl nicht. Zumindest
Weitere Kostenlose Bücher