Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
Vom Netzwerk:
nicht aus so geringem Abstand. Doch wünsche ich mir beides.
    Als wäre es damit nicht genug, berichtet sie Heinrich noch, wie Andreas ihre Lage einschätzt:
    Er sagte etwas, das falsch klingt, aber zweifellos richtig ist: daß vier Kinder eben zu viel für mich seien. Weniger, weil ich das nicht schaffe, sondern weil in mir Dinge entfaltet werden könnten, die bei anderen nicht möglich wären – Dinge geistiger Natur. Er meint, Kinder haben und aufziehen könnten viele. Das, wozu meine Befähigung vielleicht reichen würde, könnten ganz wenige.
    Es sei gegen ihre Natur, versichert sie ihrem Mann, sich und ihm Vorwürfe zu machen – Vorwürfe, dass sie beide dieses Problem nicht rechtzeitig erkannt und ihr nicht die Möglichkeit zur Entfaltung gegeben hatten. Aber recht habe Andreas zweifellos. Sie habe Heinrich verteidigt: Gerade er, Heinrich, versuche ja mit allen Kräften, ihr in allen Belastungen ihres Lebens beizustehen. Und sie werde nie – nie! – bereuen, dass sie diese vier Kinder habe; höchstens darüber trauern, dass sie alles, was sie sich wünsche und vorhabe, einfach nicht schaffe. Bin todmüde, muss schlafen , schließt der Brief.
    Was ihren Geliebten angeht, sind hinsichtlich seiner Offenheit Zweifel angebracht. Schon deswegen, weil er –der Adressat so großer und ausschließlicher Gefühle – diese Gefühle allenfalls nur halb erwidert hat. Aber ob er wollte oder nicht, er war in die Entscheidung zur Offenheit einbezogen, die die Mutter ihren beiden Männern aufzwang. Wenn die Frau in einer Ménage-à-trois ihrem Gatten alles weitersagt, bleibt dem Dritten im Bund nicht viel zu verheimlichen. Ob er die Affäre dann auch seiner Frau offenbart, muss er selbst entscheiden. Falls Andreas, was die Mutter zweifellos gewünscht, ja fast gefordert hat, seiner Frau Gertrud je die Wahrheit sagen wollte, so wäre er auf Ablehnung gestoßen. Gertrud hat nicht die geringste Neigung, sich auf das Spiel radikaler Offenheit einzulassen. Einmal beklagt die Mutter sich bei Andreas, als wären ihr solche Gefühle vollkommen fremd, über Gertruds Anspruch auf Ausschließlichkeit . Andreas nimmt dazu keine Stellung, legt aber Wert darauf, dass seine Geliebte ihre Briefe gefälligst an sein Büro in der Oper und nicht an seine Privatadresse schickt. Sie solle sich ein paar Briefumschläge mit seiner vorgedruckten Dienstadresse besorgen.
    Seinem Freund Heinrich gegenüber vollführt er seltsame, manchmal komische Verrenkungen. Viele seiner Briefe sind an beide adressiert – an die Mutter und an Heinrich, öfter aber auch nur an Heinrich, was seine Geliebte regelmäßig auf die Palme bringt. Wütend beschwert sie sich darüber, dass Andreas nach jedem ihrer Treffen nicht zuerst an sie, sondern an ihren Mann Heinrich schreibt. Natürlich behelligt der diskrete Andreas seinen Freund nicht mit Einzelheiten über seine amourösenErlebnisse mit dessen Frau, er schreibt Unverfängliches über seine neuen Regie-Vorhaben und deren Schwierigkeiten – und lässt Grüße an Heinrichs Frau ausrichten. Die verbittet sich solche Grüße. Von allen Forderungen des Herzens einmal abgesehen , hält sie Andreas vor, gebiete es nicht der simple Anstand, dass der Kavalier nach einer genossenen Liebesstunde ein noch so kurzes, ein intimes Wort an die Geliebte richte?
    Andreas gibt sich in dieser Sache schwerhörig und bleibt unbelehrbar. Ohnehin ist er eher gewohnt zu nehmen, als zu danken. Offenbar verlangt sein Gefühl von Anstand, sich nach einer Liebesnacht zuerst beim toleranten Ehemann der Geliebten zu melden. Anschließend entschuldigt er sich dann bei ihr, und sie verzeiht ihm ausnahmsweise – bis zum nächsten Anlass, bei dem er demselben Muster folgt. Du lieber Himmel, mag er sich gesagt haben, muss ich ein Leben lang dafür büßen, dass ich mich mit dieser schwierigen Geliebten eingelassen habe?
    Der Sohn, das Kind in mir, fühlt mit der Mutter und ergreift Partei für sie. Der Mann erkennt etwas von Andreas’ Leichtsinn in seinem eigenen Verhalten wieder und versteht ihn – widerwillig.
    Bei aller Empörung über Andreas’ Mangel an Manieren hat die Mutter jedoch immer auch das Fortkommen ihres Mannes im Auge. Mehrmals bittet sie Andreas, sich für die Uraufführung eines von Heinrichs neuen Musikwerken einzusetzen. Als Andreas dann statt einer Uraufführungein Engagement Heinrichs als Dirigent an dem Opernhaus durchsetzt, an dem er gerade arbeitet, ist sie alarmiert. Sie fürchtet, dass die berufliche Nähe

Weitere Kostenlose Bücher