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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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werde ich mit meinen kaputten Pfoten ungenießbar !
    Kaffee und Sehnsucht, das hält sie am Leben. Nur wenn sie Kaffee hat, gelingt es ihr, den Zustand des Tierseins abzustreifen. Ach, wenn ihre Freunde aus der Stadt sie sähen – das Aschenputtel aus Grainau! Sie würden sich alle von ihr wenden. Und eigentlich könne sie das niemandem verdenken!
    Immer seltener putzt sie sich heraus, um an den Abendgesellschaften in der Villa Hirth teilzunehmen. Siefühlt sich fehl am Platz unter den gepflegten Damen mit ihren frisch manikürten tadellosen Fingern und den Herren, die sich mit ihren Ideen und Theorien über die Zukunft produzieren. Die einen schwärmen vom Bolschewismus und der russischen Besatzungsmacht, die anderen prophezeien einen Krieg der USA mit der Sowjetunion, wieder andere reden vom Auswandern nach Australien oder Kanada. Und obwohl sie vieles von dem wolkigen Diskurs dieser Nachkriegs-Boheme nicht versteht, möchte sie dazwischenfahren und ihnen sagen, dass sie alle die Bodenhaftung verloren haben und ihre Pläne Dampf und Krampf sind. Sie hat keinen Sinn mehr für die Flirts und beziehungsreichen Blicke, für das andeutungsreiche Sprechen und Getue; sie empört sich über die aufgeplusterten Individualisten, die ihre Amouren philosophisch begründen und sie als »geistige Gemeinschaft« tarnen. Plötzlich entdecke sie, schreibt sie ihrem Heinrich, wie bürgerlich sie sei, ja sie sei ihrer Bürgerlichkeit regelrecht dankbar. Weil sie sie gegen die Dekadenz dieser feinen Leute und deren kokottenhafte Biestigkeiten schütze.
    Trotz ihrer Müdigkeit entwickelt sie in jedem zweiten Brief neue Pläne, wie sie ihr Los ändern oder wenigstens erleichtern kann. Sie will das Haus in Grainau gegen eine Wohnung in Hannover oder in Tübingen tauschen – und jeden dieser Pläne verbindet sie mit dringenden Aufträgen an ihren Mann, an wen er schreiben, mit wem er sprechen, auf welches Amt er gehen, wem er die Hölle heißmachen soll.

24
    Mitte April begibt sie sich doch noch einmal auf eine Reise. Eine Premiere von Andreas, den sie eigentlich nicht treffen will, hat sie nach München gelockt, vor allem aber die Aussicht, ihre Freundin Linda dort zu sehen. In der Nacht hat sie nur zwei Stunden geschlafen, ein eiternder Zahn zwingt sie gleich nach ihrer Ankunft in München zu einem Nottermin beim Zahnarzt. Aber das Glück, endlich wieder in einer großen Stadt zu sein und eine Premiere zu erwarten, weckt ihre Lebensgeister. Den Mittag verbringt sie mit Linda in einem Café am Stachus. Die beiden Freundinnen geraten ins Schwärmen über diese sonderbare Stadt, halb Dorf, halb Metropole, von deren Zentrum aus man auf beschneite Berghänge blickt. Sie machen sich lustig über die fesch gekleideten Passanten, die ihre über den Krieg geretteten Hüte und Pelzmäntel spazieren führen. In dieser Disziplin – im Lästern und Klatschen über Dritte – verstehen sich die beiden Freundinnen. Nach dem Essen begeben sie sich in Lindas Wohnung, machen sich für die Premiere schön, die bereits halb sechs beginnt. Das Licht erlischt, der Dirigent hebt den Taktstock. Endlich ist die Mutter wieder in der Welt der Künstler angekommen, die sie seit derFlucht aus Königsberg so lang entbehrt hat. Sie vergisst Grainau, ihre Mühen mit dem Haus und mit den Kindern, sie begeistert sich für die Sänger und für Andreas’ Inszenierung. Allerdings entgeht ihr nicht, dass sie jedes Detail der Münchener Aufführung von Carl Orffs »Die Kluge« aus einer früheren Inszenierung kennt. Auf der Bühne mit kleinen Abweichungen dieselbe Aufführung wie in Königsberg; zum Teil bessere Leute, die Gauner sind Kabinettstückchen von Andreas. Doch das ist nun erschöpft.
    Andreas war kein Risiko eingegangen, er hatte eine bereits bewährte Produktion nachinszeniert. Sie hütet sich, der wieder verliebten Linda ihre Beobachtung mitzuteilen und sie in ein neues Gespräch über Andreas’ künstlerische Nicht-Entwicklung zu verstricken. Wenn es um Lindas Verhältnis zu Andreas geht, weiß die Mutter nie, woran sie ist.
    Nach der Premiere begrüßt sie der gefeierte Regisseur mit dem theaterüblichen Kuss auf die Wange und hört sich bescheiden ihre Komplimente an. Gleich darauf entschuldigt er sich. Er muss zu einem offiziellen Dinner, auf dem er nicht fehlen darf.
    Nachts um halb zwölf erscheint Andreas in Lindas Wohnung, leicht beschwipst und todmüde. Es kommt zu einer letzten Begegnung in einer seltsamen Konstellation. Andreas und Linda bringen

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