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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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es nicht über sich, sich ins Schlafzimmer zurückzuziehen. Sie legen sich auf das Sofa im Wohnzimmer, die Mutter bettet sich zu ihren Füßen auf eine Matratze.
    Nurandeutend beschreibt die Mutter in ihrem Brief an Heinrich diese Situation. Sie erzählt ihm nicht, wie sie die Nacht verbrachte. Wie sie wach lag und – vielleicht im unruhigen Licht einer Straßenlaterne – Schatten durch das Zimmer wandern sah. Wie sie Andreas’ vertrauten Atem hörte, gleichzeitig den von Linda, die in Andreas’ Armen lag. Wie sie gegen die Bilder kämpfte, die ihr durch den Kopf geisterten. Wann hatte sie zuletzt an Lindas Stelle so ruhig mit Andreas gelegen – gab es das überhaupt je, eine ganze Nacht mit ihm? Müsste nicht sie mit Andreas auf dem Sofa liegen und Linda zu ihren Füßen?
    Bevor sie sich alle drei niederlegten, hatte Andreas sie halb im Scherz gefragt, ob nun »gleich wieder Briefe kommen« würden. Sie hatte stolz den Kopf geschüttelt.
    Das Frühstück sei harmonisch verlaufen, in bester Freundschaft, schreibt sie Heinrich. Andreas ist charmant und macht ihr Komplimente, gleichzeitig spürt sie ein gewisses Misstrauen. Er sieht sich vor, scheint immer auf einen Vorwurf gefasst zu sein, der die Stimmung sofort kippen lassen würde. Linda wiederum kann es nicht lassen, ihrer Freundin vorzuführen, wer den Wettlauf gewonnen hat. Sie geniert sich nicht, Andreas vor den Augen ihrer Freundin zu umarmen und ihm Zärtlichkeiten ins Ohr zu flüstern. Dem scheinen diese Demonstrationen eher peinlich zu sein, immer wieder löst er sich von Linda mit einem sanften Schubs. Seine ehemalige Geliebte setzt ihre ganze Kraft ein, um sichihren Schmerz nicht anmerken zu lassen. Sie hat sich vorgenommen, auf keinen Fall zu weinen, jetzt nicht und auch später nicht!
    Manchmal hat sie Angst, man könne ihr die Silben dieser Losung von den Lippen ablesen: Du wirst nicht weinen!
    Außerdem hat sie einen guten Grund, ihren Mund zu halten – und zwar buchstäblich, mit der Hand. Die Betäubungspillen haben ihre Wirkung verloren, sie muss noch einmal zum Zahnarzt, hastig verabschiedet sie sich. Eine neue Behandlung unter Narkose befreit sie von ihren Schmerzen, und wie im Rausch, völlig besoffen , schreibt sie, kauft sie in Schwabing Geschenke ein. Wenn sie schon selber mit leeren Händen und gebrochenem Herzen von diesem Besuch zurückkehrt, möchte sie wenigstens die Augen ihrer Kinder zum Leuchten bringen. Für den Jüngsten ersteht sie eine Holzeisenbahn mit sechs Waggons, für Rainer ein paar geschnitzte Kasperköpfe, für Hanna einen ausziehbaren Nähkasten, für mich eine Rechenmaschine, für sich selber – als Arznei gegen den v erdorbenen seelischen Magen – einen französischen Lippenstift. Hundert Mark sind weg, doch die spare ich in Grainau! verspricht sie Heinrich.
    Und doch kann sie ihrer Gefühle nicht Herr werden. Kaum hat sie die Kinder gerufen, die mit offenen Mündern die rot verschnürten, bunten Verpackungen aus der Stadt bestaunen, schließt sie sich in ihrem Zimmer ein und heult den ganzen Nachmittag.
    Ineinem Brief an Andreas versucht sie, sich und ihm ihre Leidenschaft noch einmal zu erklären.
    Ich habe doch auf einen Brief von dir gewartet. Aber wahrscheinlich hast du recht: Wirf Asche auf die Glut! Vielleicht erkennst du jetzt, daß ich eine ganz Andere bin als die, die du in mir siehst. Bei mir ist es doch die Leidenschaftlichkeit, von der aus mein Leben gestaltet und zerstört wird. Leidenschaft, dieses Wort darfst du mir nicht falsch auslegen, nicht verkehren. Es sind Gluten, die uns über uns hinauswachsen lassen, die uns an unsere Grenzen bringen. Darum gebe ich mich immer wieder so hin, weil ich fühle, daß man erst dort lebt, wo man sich unerreichbar ist. Diese Frage quält mich: Ist die Einmaligkeit des Erlebens bedingt durch eine einmalige Bindung zwischen Menschen? Es ist mir klar, daß eine Berechtigung eines solchen Hingegebenseins nur gegeben ist, wenn aus ihnen eines Tages Schöpferisches kommt, aber dazu fehlen mir die Begabungen – ich bin zu sehr Frau. So schaffe ich nur Wirrsal. Mußtest du mir darum begegnen, daß ich mich endlich sehe? Ganz kalt und ohne Verzeihen?
    Sie zieht sich wieder in ihre Sofaecke zurück. Will nichts mehr wissen von der seit Langem geplanten, immer wieder verschobenen Reise zu ihrem Mann nach Hannover. Will sich nicht zeigen zwischen all den Leuten, die ein schönes Leben haben – nicht mit ihren kaputten Fingern, nicht mit ihrer Müdigkeit. Schon bei dem

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