Die Liebenden von Leningrad
Käse heraus. Käse und ein Stück kaltes Schweinefleisch. Tatiana starrte keuchend auf das Essen. »Oh, was für ein Wunder«, sagte sie. »Wenn die anderen das sehen, werden sie unglaublich glücklich sein.«
»Na ja«, erwiderte Alexander und reichte ihr das Weißbrot und den Käse, »bevor sie es sehen, sollst du es essen.« »Das kann ich nicht.«
»Natürlich kannst du es. Oh bitte, weine nicht!« »Ich weine ja nicht«, sagte Tatiana und schluckte die Tränen herunter. »Ich bin nur sehr ... gerührt.« Im Nu verschlang sie die Lebensmittel, während Alexander sie mit seinen dunklen Augen zärtlich ansah. »Shura«, flüsterte sie, »ich kann dir gar nicht sagen, wie hungrig ich gewesen bin. Ich kann es nicht beschreiben.« »Ich weiß, Tania.«
»Bekommst du bei der Armee mehr zu essen?« »Ja. Die Truppen an der Front bekommen genug, die Offiziere sogar noch ein bisschen mehr. Und was sie mir nicht geben, kaufe ich. Wir bekommen die Lebensmittel, und nur der Rest gelangt zu euch.«
»So soll es auch sein«, erwiderte Tatiana, mit vollen Backen kauend.
»Schscht«, sagte er lächelnd. »Iss langsamer. Du wirst schreckliche Magenschmerzen bekommen.«
Sie aß ein wenig langsamer. Und sie lächelte ihn ein wenig an. »Für deine Familie habe ich Butter und eine Tüte weißes Mehl mitgebracht. Und zwanzig Eier. Wann habt ihr das letzte Mal Eier gegessen?«
Tatiana dachte nach. »Am 15. September, Kann ich jetzt schon ein bisschen Butter haben?«, bat sie. »Kannst du noch bei mir bleiben? Oder musst du gehen?«
»Ich bin gekommen, um dich zu sehen«, erwiderte er. Ohne sich zu berühren, standen sie schweigend da und sahen sich an. Schließlich flüsterte Alexander: »Es gibt so viel zu sagen.« »Wir haben nicht genug Zeit, um überhaupt etwas zu sagen«, erwiderte Tatiana und blickte auf die lange Schlange vor dem Laden. »Ich habe an dich gedacht«, fügte sie leise hinzu. »Tu das besser nicht«, sagte Alexander resigniert.
Tatiana wich zurück- »Mach dir keine Sorgen. Du hast sehr deutlich gemacht, was du willst.«
»Wovon redest du?« Er blickte sie verwirrt an. »Du hast ja keine Ahnung, wie es da draußen ist.« »Ich weiß nur, wie es hier ist«, erwiderte sie. »Wir werden alle sterben. Selbst die Offiziere.« Alexander schwieg. »Grinkow ist gefallen«, sagte er dann. »Oh nein.«
»Doch.« Er seufzte. » Komm, ich stelle mich mit dir an.« Alexander war der einzige Mann in der Schlange. Sie warteten eine Dreiviertelstunde. In dem überfüllten Laden war es still, niemand sagte etwas.
Aber Alexander und Tatiana konnten nicht aufhören zu reden. Sie sprachen über die Kälte, über die Deutschen, über das Essen.
»Alexander, wir müssen von irgendwoher mehr zu essen bekommen. Ich meine damit nicht mich, sondern Leningrad insgesamt. Können sie denn keine Lebensmittel einfliegen?« »Das tun sie bereits. Pro Tag fünfzig Tonnen an Lebensmitteln, Kraftstoff und Munition.«
»Fünfzig Tonnen ...« Tatiana dachte nach. »Das klingt nach ziemlich viel.«
Als Alexander nicht antwortete, fragte sie: »Ist das nicht viel?« »Nicht genug«, erwiderte er schließlich. »Dir mag es viel vorkommen, aber Pawlow, der in der Stadt für Lebensmittel zuständig ist, ernährt drei Millionen Menschen von tausend Tonnen Mehl pro Tag. Wie findest du das?« »Wir verbrauchen tausend Tonnen Mehl pro Tag?«, fragte Tatiana verblüfft.
»Ja«, erwiderte Alexander und blickte sie unbehaglich an. »Und sie bringen nur fünfzig Tonnen mit Flugzeugen herein?« »Ja. Und die fünfzig Tonnen sind nicht nur Mehl.« »Wie gelangen denn die restlichen neunhundertfünfzig Tonnen nach Leningrad?«
»Über den Ladogasee. Dreißig Kilometer nördlich der Blockadelinien. Mit Lastkähnen.«
»Shura«, sagte Tatiana, »aber diese tausend Tonnen ... Wenn wir nicht noch unsere eigenen Vorräte hätten, würden wir es nicht schaffen. Von dem, was man uns gibt, könnten wir nicht überleben.«
Alexander antwortete nicht.
Tatiana wandte den Kopf ab. Am liebsten wäre sie sofort nach Hause gegangen und hätte gezählt, wie viele Dosen Schinken sie noch hatten.
»Warum können denn nicht mehr Flugzeuge mit Lebensmitteln kommen?«, fragte sie.
»Weil alle Flugzeuge in der Armee für die Schlacht um Moskau gebraucht werden.«
»Und was ist mit der Schlacht um Leningrad?«, fragte Tatiana leise. Sie erwartete keine Antwort und bekam auch keine. »Glaubst du, die Belagerung ist noch vor dem Winter vorbei?«, fragte sie
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