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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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drehte sich um und ging, Marina mit sich ziehend.
    Die Familie zerfiel. Mama konnte das Bett nicht mehr verlassen und Babuschka pflegte sie. Mama wollte nichts mehr mit Tatiana zu tun haben, wollte ihre Entschuldigungen und ihr Flehen nicht hören. Schließlich gab Tatiana es auf. Die Leere, die Tatiana verspürte, erdrückte sie. Ihr Schuldgefühl und die Schwere der Verantwortung lasteten auf ihr. Es war nicht meine Schuld, es war doch nicht meine Schuld, versuchte sie sich jeden Morgen einzureden, während sie das Brot schnitt, sich eine Scheibe nahm und es schweigend aß. Es war nicht meine Schuld, es war nicht meine Schuld. Papas Brotration fiel nun weg. Schließlich drückte Mama Tatiana zweihundert Rubel in die Hand und trug ihr auf, etwas zu essen zu kaufen.
    Für das Geld bekam sie lediglich sieben Kartoffeln, ein Pfund Mehl und ein Kilo Weißbrot, das mittlerweile so rar wie Fleisch war.
    Tatiana holte weiter jeden Morgen die Rationen, und ein- oder zweimal, während sie in der Schlange stand, dachte sie voller Scham, dass sie Papas Ration noch bis Ende September hätten bekommen können, wenn sie den Behörden nicht sofort seinen Tod mitgeteilt hätten.
    Als es Oktober wurde, stellte Tatiana fest, dass sie immer noch eine große Leere verspürte - doch inzwischen nicht mehr in erster Linie aus Kummer, sondern vor Hunger.

Selbst in den warmen Sommermonaten pflegte die Luft in Leningrad immer ein wenig kühl zu bleiben, als ob jemand die Stadt ständig daran erinnern wollte, dass Winter und Dunkelheit nur ein paar hundert Kilometer entfernt warteten. Der Wind war kalt gewesen, selbst in den weißen Julinächten. Jetzt jedoch, im Oktober, wo die Stadt jeden Tag bombardiert wurde und nachts einsam und verlassen dalag, kündete der Wind vom herannahenden Winter. Er brachte Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit mit sich. Tatiana hüllte sich in einen grauen Mantel, setzte sich Paschas alte graue Mütze mit den Ohrenklappen auf und wickelte sich einen dicken, braunen Schal um Hals und Mund. Ihre Nase jedoch konnte sie vor dem eisigen Wind nicht schützen.
    Die Brotration war schon wieder reduziert worden und jetzt bekamen Tatiana, Mama und Dascha nur noch dreihundert Gramm und Babuschka und Marina nur noch zweihundert Gramm.
    Weniger als anderthalb Kilo für sie alle zusammen. Außer Brot gab es in den Läden nichts mehr zu kaufen. Es gab keine Eier, keine Butter, kein Weißbrot, keinen Käse, kein Fleisch, keinen Zucker, kein Obst, kein Gemüse - nichts. Anfang Oktober hatte Tatiana einmal drei Zwiebeln ergattert und Zwiebelsuppe daraus gekocht, die sogar recht gut schmeckte. Mit ein wenig mehr Salz wäre sie noch besser gewesen, aber Tatiana ging sparsam mit ihrem Salz um. Die Familie hütete ihre Vorräte, aber inzwischen mussten sie jeden Abend eine Dose Schinken aufmachen und dankten Deda insgeheim dafür. Sie konnten den Schinken noch nicht einmal mehr draußen in der Küche braten, weil der Geruch durch die ganze Gemeinschaftswohnung zog und dann die Sarkowa, Slawin und die Petrowa in die Küche kamen, sich neben den Herd stellten und zu Tatiana sagten: »Hast du vielleicht auch ein bisschen für uns?«
    Als Dascha sie alle zurück in ihre Zimmer schickte, gackerte Slawin laut wie ein Huhn. »So ist es richtig, esst den Schinken, Mädels. Esst ihn auf. Ich habe gerade direkt mit dem Führer gesprochen. Herr Hitler will seine Truppen von Leningrad abziehen, sobald ihr eure letzte Dose Schinken gegessen habt.« Er lachte hysterisch. »Habt ihr das etwa noch nicht gehört?« Die Metanows kauften einen kleinen eisernen Ofen, eine so genannte borsoika, mit einem Ofenrohr, das aus dem Fenster hing. Die flache Eisenoberfläche des Ofens diente als Kochplatte. Man brauchte nur wenig Holz, um ihn anzufeuern, aber er wärmte auch nur einen kleinen Bereich des Zimmers. Alexander hielt sich immer noch in Karelien auf und Dimitri war in Tikhvin. Sie hörten nichts von ihnen. In der zweiten Oktoberwoche platzte eine Splitterbombe über dem Grecheskij und ein Splitter bohrte sich in Antons Bein. Tatiana war an diesem Abend nicht auf dem Dach. Als sie davon erfuhr, brachte sie Anton heimlich eine Dose Schinken und er schlang ihn gierig hinunter. »Anton«, sagte Tatiana, »willst du nicht deiner Mama etwas abgeben?« »Sie isst bei der Arbeit«, erwiderte er. »Sie bekommt dort Suppe und Hafer.« »Und was ist mit Kirill?«
    »Was soll mit ihm sein, Tania?«, erwiderte Anton ungeduldig. »Hast du den Schinken für mich

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