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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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oder für Kirill mitgebracht?« Tatiana gefiel es gar nicht, wie Mariska aussah. Die lockigen Haare fielen ihr aus. Jeden Tag kochte Tatiana heimlich Haferschleim für sie, aber sie wusste, sie würde Mariska nicht mehr lange etwas zu essen geben können. Tatianas Familie murrte bereits darüber. Tatiana gab ein bisschen Salz und Zucker in den Haferschleim, hatte aber weder Butter noch Milch. Und doch aß Mariska den Brei immer, als wenn es ihre letzte Mahlzeit wäre. Schließlich brachte Tatiana sie auf die Kinderstation im Grecheskij-Krankenhaus, wobei sie sie den letzten Block tragen musste.
    Als Tatiana noch kleiner war, vergaß sie manchmal den halben Tag lang etwas zu essen. Wenn es ihr dann plötzlich einfiel, sagte sie immer: » Oh nein, ich verhungere!« Dann schlang sie Suppe oder Kuchen herunter, bis sie vom Stuhl sank. Ein ähnliches Gefühl hatte Tatiana bereits gegen Ende September verspürt. Anfang Oktober war es stärker geworden, aber wenn sie jetzt ihre spärliche Ration zu sich genommen hatte, war sie immer noch genauso hungrig wie zuvor. Sie hätte gern ein paar von ihren gerösteten Brotbrocken gegessen, aber es waren kaum noch welche da. Dascha und Mama steckten sich geröstetes Brot ein, wenn sie zur Arbeit gingen. Zuerst nur ein paar Stücke, dann immer mehr. Und auch Babuschka knabberte den ganzen Tag über Brot, während sie malte oder las. Marina nahm geröstetes Brot mit in die Universität oder wenn sie ihre sterbende Mutter besuchte.
    Eines Morgens gab Mama Tatiana den Rest ihres Geldes -fünfhundert Rubel - und trug ihr auf, in das große Geschäft zu gehen und alles zu kaufen, was sie bekommen konnte. Es war weit bis dorthin, und als Tatiana ankam, stellte sie fest, dass der Laden nicht nur ausgebombt und verlassen war, sondern dass in der zerborstenen Auslage auf einem Schild vom 18. September stand:

    Langsam ging sie nach Hause. Am 18. September, das war vor drei Wochen gewesen. Papa lebte noch und Dascha wollte heiraten. Alexander heiraten.
    Mama glaubte Tatiana die Geschichte mit dem Laden nicht, ging auf sie los und wollte sie schlagen, aber im letzten Moment hielt sie sich zurück. Für Tatiana war das ein solches Wunder, dass sie ihre Mutter umarmte und sagte: »Mamuschka, mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich schon um alles.« Sie gab ihrer Mutter das Geld zurück, legte die Brotration auf den Tisch und nahm sich selbst nur ein kleines Stück, das sie auf dem Weg zum Krankenhaus hungrig verschlang. Dabei dachte sie ans Mittagessen und ob sie wohl auch ein wenig Haferschleim zu ihrer Suppe bekam. Tatiana dachte mittlerweile kaum noch an etwas anderes als an Essen, der Hunger unterdrückte alle anderen Gefühle.
    Nur im Bett dachte Tatiana an Alexander. Einmal erbot sich Marina, an Tatianas Stelle die Brotrationen holen zu gehen. Verwirrt gab ihr Tatiana die Lebensmittelmarken. »Soll ich mitgehen?« »Nein«, erwiderte Marina. »Ich mache das gern.« Als Marina zurückkam und das Brot auf den Tisch legte, war es nur ungefähr ein Pfund, »Marina«, fragte Tatiana, »wo ist das übrige Brot?« »Es tut mir Leid«, erwiderte Marina, »ich habe es gegessen.« Überrascht blickte Tatiana Marina an. Sechs Wochen lang hatte sie für ihre Familie die Brotrationen abgeholt und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, das Brot, auf das fünf Personen warteten, aufzuessen.
    Nun aber hatte Tatiana das Gefühl, zu verhungern. Und sie vermisste Alexander.

    Als Tatiana eines Morgens Mitte Oktober an der Fontanka entlang auf den Laden zuging, sah sie schon von weitem einen Offizier und wünschte sich glühend, es möge Alexander sein. Als sie näher kam, bemerkte sie jedoch, dass der Mann sehr viel älter und schmutziger aussah, sein Mantel und sein Gewehr waren mit Schlamm bespritzt. Vorsichtig trat sie näher. Es war Alexander.
    Sein Gesicht sah traurig und liebevoll zugleich aus. Tatiana ging noch ein wenig näher heran und legte ihm die Hand auf die Brust. »Shura, was ist mit dir los?«
    »Oh, Tania«, erwiderte er, »reden wir nicht von mir. Du bist so dünn geworden. Dein Gesicht...«
    »Ich bin immer schon dünn gewesen. Geht es dir gut?«
    »Aber dein süßes rundes Gesicht...«, sagte er heiser.
    »Das war in einem anderen Leben, Alexander«, erwiderte Tatiana. »Wie war ...«
    »Brutal.« Er zuckte mit den Schultern. »Sieh mal. Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe.« Er öffnete seinen schwarzen Rucksack und zog einen Kanten Weißbrot und, eingewickelt in weißes Papier, einen

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