Die Liebenden von Leningrad
Slawin den Winter überstanden hatte, also war alles möglich. Aber dass keine Briefe eintrafen, beunruhigte ihn doch. Eine Woche, nachdem er die Mädchen aus Leningrad fortgebracht hatte, fuhr Alexander einen Lastwagen über das Eis nach Kobona und suchte dort vergeblich nach ihnen. Im März schrieb Alexander besorgt und deprimiert einen Brief an Dascha nach Molotow. Er hatte sogar an die Verwaltung in Molotow telegrafiert und um Informationen über Daria oder Tatiana Metanowa gebeten, aber erst im Mai bekam er mit der regulären Post ein einzeiliges Schreiben zurück, in dem lapidar stand, dass über diese Personen nichts bekannt sei. In jeder freien Stunde ging Alexander in die Wohnung in der Fünften Sowjet, machte sauber, räumte auf und wusch, als im März die Rohre repariert wurden, die Bettwäsche. Im zweiten Zimmer setzte er neue Fensterscheiben ein. Er fand ein altes Fotoalbum der Metanows und begann es durchzublättern, legte es aber dann wieder weg. Was dachte er sich dabei? Er kam sich vor, als sähe er Gespenster.
Jedes Mal, wenn er in Leningrad war, ging er zur Post, um nachzusehen, ob Briefe an die Metanows angekommen waren. Der alte Postmeister verdrehte bei seinem Anblick schon die Augen.
Auch der Poststelle in der Kaserne ging er wegen seiner ständigen Fragen nach Briefen auf die Nerven. Schließlich fuhr er zurück nach Ladoga, bewachte die Straße des Lebens, die nun zur Wasserstraße geworden war, und wartete auf Urlaub.
Leningrad erwachte langsam wieder aus der Todesstarre, und die Stadtverwaltung fürchtete zu Recht, dass wegen der vielen Leichen, die auf den Straßen lagen, eine Epidemie drohte, wenn es wieder wärmer wurde. Und so begann man mit den Aufräumarbeiten.
Schließlich fuhren auch Busse und Straßenbahnen wieder und vor der Isaakskathedrale blühten Tulpen. Tania hätte sich über die Tulpen gefreut, dachte Alexander. Die Zivilrationen wurden auf dreihundert Gramm für die Abhängigen erhöht - nicht, weil es plötzlich mehr Mehl gab, sondern weil nur noch so wenige Menschen am Leben waren.
Bei Kriegsausbruch, am 22. Juni 1941, lebten in Leningrad drei Millionen Menschen. Als die Blockade am 8. September 1941 begann, waren es noch zweieinhalb Millionen. Im Frühling 1942 gab es nur noch eine Million Menschen in der Stadt.
Über die Eisstraße waren ungefähr eine halbe Million Menschen evakuiert worden, doch anschließend hatte man sie in Kobona ihrem zweifelhaften Schicksal überlassen. Und die Belagerung war immer noch nicht vorbei. Als der Schnee geschmolzen war, musste Alexander auf dem Piskarew-Friedhof Massengräber für die fast eine Million Leichen ausheben lassen. Der Boden war noch immer so hart gefroren, dass sie Dynamit einsetzten. Und die Belagerung war immer noch nicht vorüber. Langsam und auf verschlungenen Wegen gelangten inzwischen jedoch amerikanische Hilfsgüter in die Stadt. Ein paar Mal gab es im Frühling Milchpulver, Suppenpulver, Eipulver. Auch Alexander besorgte sich Lebensmittel und er kaufte einem amerikanischen Lastwagenfahrer der Hilfstruppe ein Englisch-Russisches Konversationsbuch ab. Das würde Tania bestimmt gefallen, dachte er. Sie hatte so fleißig Englisch gelernt. Am Newskij Prospekt wurden falsche Fassaden errichtet, mit denen die klaffenden Bombentrichter verdeckt werden sollten. Langsam und fast unbemerkt ging Leningrad dem Sommer 1942 entgegen.
Immer noch bombardierten die Deutschen Tag für Tag die Stadt.
Im Januar, im Februar, im März, im April, im Mai. Und immer noch gab Alexander die Hoffnung nicht auf.
Im Juni besuchte Dimitri ihn in der Kaserne. Alexander war von seinem Anblick entsetzt. Dimitri schien um Jahre gealtert. Er war dünn und ausgemergelt, seine Hände zitterten und er humpelte vornübergebeugt wie ein alter Mann. Alexander starrte ihn fassungslos an und dachte: Dimitri hat überlebt, warum dann nicht auch Dascha und Tania? »Nur mein linker Fuß ist noch in Ordnung«, erzählte Dimitri. »Ganz schön blöd, was?« Er lächelte Alexander an. Widerwillig bot Alexander ihm einen Platz an. Er hatte gehofft, Dimitri nie wieder zu sehen, doch offenbar war ihm so viel Glück nicht beschieden. Sie waren allein, und Dimitri hatte ein Funkeln in den Augen, das Alexander nicht gefiel.
»Zumindest muss ich jetzt nie mehr an die Front«, sagte Dimitri fröhlich. »Das ist doch schon was!«
»Ja«, erwiderte Alexander. »Das ist ja genau das, was du immer wolltest - beim Nachschub arbeiten.« »Nachschub!«, schnaubte
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