Die Liebenden von Leningrad
täglich Schießübungen ab und pro Tag starben zweihundert Soldaten. Kopfschüttelnd sagte Stepanow: »Wir müssen die Newa in Ponton-Booten überqueren. Wir - Sie - verfügen nur über beschränkte Artillerie. Einschüssige Gewehre ...« »Ich nicht, Genosse Oberst. Ich habe ein Schpagin-Maschinengewehr. Und ein automatisches Gewehr.« Alexander lächelte. Stepanow erwiderte sein Lächeln und nickte. »Hauptmann, schrecken Sie nicht vor dem gerechten Kampf zurück, auch wenn es ein ungleicher Kampf ist.«
Alexander straffte die Schultern und erwiderte: »Genosse Oberst, das habe ich noch nie getan.«
Stepanow trat auf ihn zu. »Wenn wir mehr Männer wie Sie hätten, hätten wir den Krieg schon längst gewonnen.« Er schüttelte Alexander die Hand. »Gute Reise. Wenn Sie zurückkommen, wird nichts mehr so sein wie vorher.«
Während Alexander durch die Sowjetunion reiste, konnte er nur eines denken: Hätten Dascha oder Tania ihm geschrieben, wenn sie am Leben wären?
Auf seiner viertägigen Reise nach Molotow erinnerte er sich an jeden einzelnen Moment mit Tatiana. Während der ganzen sechzehnhundert Kilometer dachte er an den Obvodnoj-Kanal, an die Kirow-Werke, an sein Zelt in Luga, an das Zimmer im Krankenhaus, an die Isaakskathedrale. Daran, wie er ihren fast leblosen Körper auf dem Schlitten durch Leningrad gezogen hatte.
Er dachte daran, wie er Tatianas ganze Familie mit Essen versorgt hatte, wie Tatiana auf dem Dach auf und ab gehüpft war. Wie sie neben ihm hergegangen war, nachdem sie ihre Mutter zum Friedhof gebracht hatten. Wie sie bewegungslos vor den drei Jungen mit dem Messer gestanden hatte. Doch vor allem zwei Bilder gingen ihm ständig durch den Kopf.
Tatiana mit Helm und fremden Kleidern, voller Blut, verschüttet unter Steinen, Balken und Leichen, aber noch warm und noch atmend.
Tatiana auf dem Krankenhausbett, nackt unter seinen Händen, stöhnend.
Wenn irgendjemand es schaffen konnte, dann doch dieses Mädchen, das jeden Morgen um halb sieben aufgestanden und durch das sterbende Leningrad getrottet war, um für die Familie Brot zu holen!
Doch wenn sie es geschafft hatte, warum hatte sie ihm dann nicht geschrieben?
Das Mädchen, das ihm die Hand geküsst, ihm Tee serviert und ihn atemlos angeblickt hatte, wenn er redete - war dieses Mädchen tot?
Oder gehörte ihr Herz nicht mehr ihm?
Bitte, Gott , betete Alexander, selbst wenn sie mich nicht mehr liebt - lass sie am Leben sein.
Ungewaschen und hungrig kam Alexander am Freitag, dem 19. Juni 1942, mittags in Molotow an, nachdem er vier Tage lang in fünf verschiedenen Zügen und Militärjeeps unterwegs gewesen war. Er setzte sich am Bahnhof auf eine Holzbank. Er hatte nicht den Mut, nach Lazarewo zu gehen. Alexander konnte den Gedanken nicht ertragen, Tatiana könnte in Kobona - so kurz vor der Rettung - gestorben sein. Und was noch schlimmer war, er wusste ganz genau, dass er dann nicht würde zurückkehren können, weil das Leben auch für ihn sinnlos wäre, wenn Tatiana tot war.
Einen Moment lang dachte er daran, auf den nächsten Zug zu springen und sofort zurückzufahren. Er brauchte viel mehr Mut, um sich auf den Weg nach Lazarewo zu machen, als am Ladogasee hinter seinem Maschinengewehr zu stehen und zu wissen, dass die deutschen Bomber ihn jederzeit töten konnten. Er hatte keine Angst davor zu sterben. Er hatte Angst davor, dass sie tot war.
Zwei Stunden lang saß Alexander auf der Bank in Molotow. Schließlich wappnete er sich, schulterte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg nach Lazarewo. Er kam sich vor wie ein Mann, der zu seiner eigenen Hinrichtung geht.
Lazarewo lag zehn Kilometer von Molotow entfernt hinter einem dichten Wald.
Der Wald bestand nicht nur aus Fichten, auch Ulmen, Eichen und Birken wuchsen dort. Alexander streifte mit seinem schweren Gepäck durch Blaubeersträucher und Brennnesseln - außer seinem Rucksack trug er sein Gewehr, ein großes Zelt, Decken, Helm, Munition und einen Sack mit Nahrungsmitteln aus Kobona. In der Nähe hörte er die Kama rauschen. Er überlegte kurz, ob er zum Fluss gehen und sich waschen sollte, beschloss dann aber, weiterzugehen.
Im Gehen zupfte er Blaubeeren von den Sträuchern und steckte sie sich in den Mund. Es war ein sonniger, warmer Tag, und Alexander war auf einmal von Hoffnung erfüllt. Er beschleunigte seine Schritte.
Als er aus dem Wald trat, lag vor ihm eine staubige Dorfstraße. Zu beiden Seiten standen in verwilderten Gärten mit zerfallenen Zäunen
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