Die Liebenden von Leningrad
mit.«
Er legte den Arm um sie und humpelte neben ihr her. »Willst du mich gar nicht nach meinem Bein fragen?« »Doch, später«, erwiderte Tatiana und führte ihn zu dem abgetrennten Raum, in dem Daschas Leiche lag. »Hilfst du mir, Dascha zu beerdigen?«
Dimitri zog scharf die Luft ein. »Oh, Tania«, sagte er kopfschüttelnd. »Wo sollen wir sie denn beerdigen? Der Boden ist fest gefroren. Noch nicht einmal ein Bagger könnte eine Grube ausheben.«
Tatiana überlegte. »Die Nazis bombardieren doch die Straße des Lebens, oder?«
»Ja.«
»Und dann gibt es doch Löcher im Eis, nicht wahr?«
»Ja.« Langsam begann er zu verstehen.
»Dann lass uns gehen.«
»Tania, ich kann nicht.«
»Doch, wenn ich kann, kannst du auch.«
»Du verstehst nicht...«
»Dima, du verstehst nicht. Ich kann sie hier nicht liegen lassen. Ich könnte nicht von hier weggehen, wenn ich wüsste, dass sie noch hier liegt.« Sie stellte sich vor ihn. »Dimitri, wenn ich sterbe, würdest du mir dann einen Leichensack nähen? Oder würdest du mich einfach auf dem Haufen mit den anderen Leichen zurücklassen? Was würdest du mit mir tun?« »Ach Tania«, erwiderte er nur. »Bitte. Hilf mir.«
Seufzend schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht. Sieh mich doch an. Ich war fast drei Monate im Krankenhaus. Sie haben mich erst vor kurzem entlassen, und jetzt muss ich schon wieder stundenlang herumlaufen. Mein Fuß schmerzt, und die Deutschen werfen die ganze Zeit über Bomben auf den See. Ich gehe nicht da hin. Ich kann nicht weglaufen, wenn das Artilleriefeuer anfängt.«
»Dann besorg mir einen Schlitten. Kannst du das wenigstens regeln?«, fragte Tatiana kalt und setzte sich neben Dascha. »Tania ...«
»Dimitri, es geht nur um einen Schlitten! Das wird dir doch wenigstens gelingen.«
Nach einer Weile kam er mit einem Schlitten zurück. Tatiana stand auf. »Danke. Du kannst jetzt gehen«, sagte sie. »Warum machst du dir solche Mühe?«, rief Dimitri aus. »Sie ist tot. Wen kümmert es schon? Zerbrich dir doch nicht den Kopf darüber. Der verdammte Krieg kann ihr wenigstens nichts mehr anhaben.«
Tatiana blickte ihn an. »Wen es kümmert? Mich kümmert es. Sie ist meine Schwester! Und ich werde sie nicht zurücklassen, ohne sie zu beerdigen.«
»Und was willst du dann tun? Du bist selbst nicht gesund. Willst du dann zu deinen Großeltern gehen? Wo leben sie jetzt? In Kasan, in Molotow? Halte dich von dort besser fern. Ich höre ständig schreckliche Geschichten über die Evakuierten.« »Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Mach dir um mich keine Gedanken.«
Als er ging, rief sie ihm nach: »Dimitri?« Er drehte sich um.
»Wenn du Alexander siehst, sag ihm, dass Dascha tot ist.« Er nickte. »Natürlich, Taneschka. Ich sehe ihn nächste Woche. Es tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen kann.« Tatiana wandte sich ab.
Mit Olgas Hilfe legte sie Dascha auf den Schlitten und dann machte sie sich auf den Weg zum Ladogasee. Es war früher Nachmittag und schon fast dunkel. Deutsche Flugzeuge waren nicht zu sehen. Nach ungefähr zweihundertfünfzig Metern fand Tatiana ein Loch im Eis. Sie zog Daschas Leiche vom Schlitten und kniete sich daneben.
Dascha, weißt du noch, wie du mir im llmensee das Tauchen beigebracht hast? Als ich fünf war und du zwölf? Du hast mir gezeigt, wie man unter Wasser schwimmt, und du hast gesagt, du lieb st das Gefühl, weil es da unten so friedlich ist. Und dann hast du mir beigebracht, länger unter Wasser zu bleiben als Pascha. Jetzt kannst du für immer unter Wasser schwimmen, Dascha Metanowa.
In dem arktischen Wind gefroren die Tränen auf Tatianas Gesicht. Sie flüsterte: »Ich wünschte, ich wüsste ein Gebet. Lieber Gott, bitte lass meine einzige Schwester Dascha in Frieden schwimmen. Es soll ihr nie wieder kalt sein und bitte ... gib ihr jeden Tag so viel Brot, wie sie nur essen kann, dort oben im Himmel...«
Schließlich schob Tatiana Daschas Leiche in das Eisloch. Im schwindenden Tageslicht wirkte der weiße Sack blau. Langsam ging er unter und verschwand. Tatiana kniete noch eine Weile auf dem Eis. Dann stand sie auf und ging langsam ans Ufer zurück.
Alexander fuhr auf gut Glück nach Lazarewo. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Er hatte nichts, buchstäblich gar nichts. Keinen Brief, nicht eine einzige Zeile von Dascha oder Tatiana, in der sie ihm mitteilten, dass sie heil in Molotow angekommen waren. Er zweifelte daran, dass Dascha überlebt hatte, aber er hatte auch gesehen, dass
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