Die Liebenden von Leningrad
Alexander würdigte ihn keines Blickes. Schließlich räusperte sich Dimitri. »Alexander, können wir miteinander reden? Es ist sehr wichtig.«
»Alles ist wichtig«, erwiderte Alexander. »Und ich rede doch ständig mit dir.«
»Es geht um Tatiana.«
»Was ist mit ihr?« Alexander blickte auf seine Infusion. Er brauchte sie eigentlich gar nicht mehr. Tatiana bestand nur darauf, damit er sein Bett auf der Intensivstation nicht verlor. »Alexander, ich weiß, wie du für sie empfindest...« »Ach ja?« »Natürlich ...« »Das bezweifle ich. Also, was ist mit ihr?« »Sie ist krank.« Alexander schwieg.
»Ja, krank. Du hast ja keine Ahnung. Du siehst ja nicht, was ich sehe. Sie läuft herum wie ein Gespenst. Ständig fällt sie in Ohnmacht. Kürzlich hat sie Gott weiß wie lange ohnmächtig im Schnee gelegen. Ein Leutnant hat sie schließlich aufgehoben und wir haben sie zu Dr. Sayers gebracht. Sie setzt zwar eine tapfere Miene auf ...«
»Woher weißt du, dass sie im Schnee gelegen hat?«
»Ich habe davon gehört. Ich höre alles. Und ich sehe sie ja auch auf der Station der Sterbenden. Wenn sie geht, hält sie sich oft an der Wand fest. Sie hat zu Dr. Sayers gesagt, sie bekäme nicht genug zu essen.«
»Woher weißt du das?«
»Sayers hat es mir erzählt.«
»Ihr werdet richtig gute Freunde, Sayers und du, was?« »Nein. Ich bringe ihm nur Verbandszeug, Jod und Medikamente. Und dann unterhalten wir uns ein bisschen.« »Was willst du eigentlich?« »Wusstest du, dass es ihr nicht so gut geht?« Alexander war klar, warum Tatiana nicht genug zu essen bekam und warum sie ständig in Ohnmacht fiel, aber das würde er Dimitri ganz gewiss nicht auf die Nase binden. Er schwieg einen Augenblick lang, dann fragte er erneut: »Was willst du eigentlich? «
Dimitri räusperte sich und schob seinen Stuhl näher ans Bett. »Was wir planen ... ist gefährlich. Es erfordert Kraft, Mut und Stärke.«
Alexander blickte ihn verächtlich an. »Ach ja? Und was wäre das?«
»Wie soll Tatiana das alles schaffen?« »Wovon redest du ...«
»Alexander! Hör mir doch mal einen Moment lang zu. Sie ist schwach und wir haben einen harten Weg vor uns. Selbst mit Sayer´ Hilfe. Es gibt sechs Kontrollpunkte zwischen Lisiy Nos und hier. Sechs! Eine einzige Silbe von ihr und wir sind alle verloren. Alexander ... sie kann nicht mitkommen.«
So ruhig er konnte, erwiderte Alexander: »Ich werde kein weiteres Wort mit dir darüber verlieren.« »Du hörst mir ja gar nicht zu.« »Da hast du Recht.«
»Sei doch nicht so verbohrt. Du weißt, dass ich ...« »Ich weiß überhaupt nichts!«, rief Alexander aus und ballte die Fäuste. »Ich weiß nur, dass ich ohne sie ...« Er brach ab. Was tat er da? Wollte er Dimitri etwa überzeugen? »Ich bin müde«, sagte er. »Wir reden ein anderes Mal darüber.« »Es gibt kein anderes Mal!«, zischte Dimitri. »Und schrei nicht so. Wir wollen in achtundvierzig Stunden aufbrechen. Ich sage dir, ich habe keine Lust, aufgehängt zu werden, nur weil du die Dinge nicht klar siehst.«
»Kristallklar, Dimitri«, entgegnete Alexander beißend. »Tatiana geht es gut. Und sie kommt mit uns.« »Nach einem Sechsstundentag auf der Station bricht sie zusammen.«
»Sechs Stunden? Was weißt du denn schon? Sie ist vierundzwanzig Stunden am Tag auf den Beinen. Sie sitzt nicht gemütlich in einem Laster und hat Wodka und Zigaretten bei sich. Sie schläft auf Pappe und isst, was die Soldaten übrig lassen, und sie wäscht sich mit Schnee. Erzähl mir nicht, wie ihr Tag aussieht!« »Und wenn es einen Zwischenfall an der Grenze gibt? Was ist denn, wenn wir trotz Sayers angehalten und verhört werden? Wir beide werden uns den Weg freischießen müssen.« »Wir werden das tun, was nötig ist.« Alexander blickte finster auf Dimitris Stock, auf seine zusammengesunkene Gestalt, auf sein übel zugerichtetes Gesicht.
»Ja, aber was wird sie tun? Sie wird in Ohnmacht fallen. Sie wird in den Schnee sinken und du wirst nicht wissen, ob du auf den Grenzsoldaten schießen oder ihr aufhelfen sollst!« »Ich werde beides tun.«
»Sie kann nicht laufen, nicht schießen, nicht kämpfen. Sie wird bei dem ersten Anzeichen von Schwierigkeiten in Ohnmacht fallen, und glaub mir, wir werden Schwierigkeiten bekommen.« »Kannst du denn laufen, Dimitri?«, fragte Alexander hasserfüllt.
»Ja! Ich bin immer noch Soldat.« »Was ist mit dem Arzt? Er kann auch nicht kämpfen.« »Er ist ein Mann. Und ehrlich gesagt mache ich mir um ihn
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