Die Liebenden von Leningrad
schreiend nach draußen rannte, wo sie sofort niedergeschossen wurde. Die anderen acht sahen entsetzt zu und bald war allen klar, dass die Deutschen den Bahnhof dem Erdboden gleichmachen wollten. Tatiana saß mit angezogenen Knien auf dem Boden, schloss die Augen und zog sich den grünen Helm tief ins Gesicht.
Die Flugzeuge verschwanden erst, als das kleine Gebäude nicht mehr stand. Der Bahnhof war in sich zusammengesunken wie nasses Papier. Tatiana kroch unter den brennenden Balken hervor, aber sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. In dem dichten Rauch ertastete sie andere Körper um sich herum. Zunächst hörte sie noch Geräusche und Schüsse, aber dann war es auf einmal still.
Alexander begann die Hoffnung zu verlieren. Er konnte von ferne beobachten, wie die Deutschen am anderen Flussufer ihre Truppen und Panzer sammelten. Es waren Bataillone schießbereiter, angriffslustiger und hervorragend ausgebildeter Soldaten, die sich durch nichts aufhalten lassen würden, schon gar nicht durch ein Häuflein Freiwilliger mit Schaufeln. So weit er sehen konnte, gab es nur zwei sowjetische Panzer. Auf feindlicher Seite hingegen standen mindestens dreißig Panzer. Alexanders Einheit war von zwanzig Männern auf zwölf zusammengeschrumpft und zwischen ihm und Leningrad lagen jetzt Dutzende von Minenfeldern. Drei seiner Männer waren gestorben, als sie eine Mine legten. Sie hatten keine Erfahrung mit Minen. Die Gewehre waren den Männern abgenommen worden und nur Alexander und seine beiden Feldwebel hatten ihre behalten dürfen.
Am späten Abend rief der neue Oberst Alexander in sein Kommandozelt. Alexander fand ihn bei weitem nicht so sympathisch wie Oberst Pjadischew. »Leutnant, wie viele Männer haben Sie noch?« »Nur zwölf, Genosse Oberst.« »Also ausreichend.« »Ausreichend wofür?«
»Die Deutschen haben gerade den Bahnhof in Luga bombardiert«, sagte der Oberst. »Jetzt können die Züge, die mit Männern und Munition aus Leningrad kommen, die Front nicht mehr erreichen. Sie und Ihre Männer müssen die Schienen frei räumen, damit sie repariert werden und wir weitermachen können.« »Es wird schon dunkel, Genosse Oberst.«
»Ich weiß, Leutnant. Ich wünschte, ich könnte für Tageslicht sorgen, aber das kann ich nicht. Die weißen Nächte sind vorbei und das hier duldet keinen Aufschub!«
Alexander wandte sich bereits zum Gehen, als der Oberst beiläufig bemerkte: »Noch etwas - ich habe gehört, dass Freiwillige in dem Bahnhof waren, als er zerbombt wurde. Entfernen Sie sie bitte!«
Am Bahnhof in Luga entzündeten Alexander und seine Männer Kerosinlampen, um den Schaden zu betrachten. Das Steingebäude war eingestürzt und die Schienen waren im Umkreis von fünfzig Metern mit Schutt übersät. Alexander rief: »Ist darunter noch jemand? Antwortet!« Niemand antwortete.
Er trat einen Schritt näher und rief noch einmal: »Ist dort jemand?«
Er glaubte ein Stöhnen gehört zu haben. »Sie sind offenbar alle umgekommen, Leutnant«, stellte Kaschnikow fest. »Sehen Sie sich das an!« »Ja, aber hören Sie doch ...«
»Ist da jemand?« Mit bloßen Händen begann Alexander, die Steine wegzuräumen. »Helfen Sie mir!«
»Wir sollten uns zuerst um die Schienen kümmern, damit die Ingenieure sie reparieren können«, mahnte Kaschnikow. Alexander richtete sich auf und warf ihm einen kühlen Blick zu. »Schienen vor Menschen, Feldwebel?« »Auf Befehl des Obersts, Leutnant«, murmelte Kaschnikow. »Nein, Feldwebel, hier gilt mein Befehl. Und jetzt bewegen Sie sich!« Alexander schob Balken, Fenster- und Türrahmen beiseite. Er konnte kaum etwas erkennen, so dunkel war es. Seine Hände wurden schmutzig und er schnitt sich an einer Scheibe, aber er spürte den Schmerz kaum.
Alexander vernahm abermals ein Geräusch. »Hören Sie das auch?«, wollte er wissen. Es war ein leises Stöhnen. »Nein, Genosse Leutnant«, erwiderte Kaschnikow und sah ihn besorgt an.
»Kaschnikow, sind Ihnen die Hände abgefallen? Schneller!« Sie arbeiteten rascher.
Schließlich fanden sie unter den Steinen und den angekohlten Balken die ersten Leichen. Und dann stießen sie auf mehrere Leichen, die, wie Alexander fand, viel zu ordentlich aufeinander lagen. Diese Menschen konnten unmöglich so gestorben sein. Er lauschte angestrengt. Da war das Stöhnen wieder. Er begann, die Leichen beiseite zu räumen. Abermals ertönte das Stöhnen.
Und dann fand Alexander Tatiana.
Sie lag mit dem Rücken zu ihm und auf ihrem Kopf
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