Die Liebenden von Leningrad
Zähne zusammen. Sie lernte, Blutungen zu stillen, indem sie sterilen Mull darauf drückte. Die Blutung hörte zwar auf, aber meist starb der Verwundete kurze Zeit später. Bluttransfusionen gab es im Lazarett nicht. Es ließ sich auch nicht verhindern, dass sich die verletzten Gliedmaßen entzündeten, und Schmerzmittel konnte Tatiana nicht verabreichen. Der Arzt weigerte sich, den Sterbenden Morphium zu geben. Das war den weniger schwer Verletzten vorbehalten, die wieder an die Front zurückkehren sollten. Die Hilflosigkeit, die Tatiana in dieser ersten Nacht im Lazarett empfand, war noch schlimmer als das Gefühl der Ohnmacht in Bezug auf Pascha.
Am nächsten Morgen fragte sie einer der schwer verletzten Soldaten, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sei. »Ich bin ein Mädchen«, sagte sie traurig.
»Beweis es«, forderte er, aber kaum hatte er es ausgesprochen, war er schon tot.
Im Radio, das in der Nähe der Offizierszelte stand, hörte Tatiana, wie eine Stimme mit starkem deutschem Akzent sie aufforderte, nach Deutschland zu kommen. Die Deutschen warfen weiterhin Pässe ab, damit die Russen die Grenze überqueren konnten. Danach kehrte Ruhe ein, bis zum Abend, und dann begannen die Bombenangriffe erneut. In der Zwischenzeit wusch Tatiana die Sterbenden und verband ihre Wunden. Am folgenden Nachmittag lief sie endlos weit über die Felder, um eine Kartoffel zu finden, die sie essen konnte. Sie hörte die Flugzeuge, noch bevor sie sie sah, und warf sich sofort ins Gebüsch. Als die Flugzeuge wieder fort waren, rannte Tatiana zum Lazarettzelt zurück. Es brannte lichterloh. Verwundete kamen stöhnend herausgekrochen.
Hunderte von Überlebenden bekamen Helme, Eimer und Tassen in die Hand gedrückt und liefen so schnell sie konnten zum Fluss hinunter, um Wasser zu schöpfen und das Feuer so zu löschen. Die Aktion dauerte bis weit in den Abend hinein. Es gab nun kein Zelt mehr für die Verletzten. Sie lagen unter freiem Himmel, auf Decken oder auf der Erde. Tatiana konnte niemandem helfen. Alles, was sie tun konnte, war, eine Frau zu trösten, die ihr Kind bei dem Angriff verloren und selbst eine schwere Bauchverletzung erlitten hatte. Sie lag vor Tatiana im Gras und weinte um ihr kleines Mädchen. Tatiana ergriff ihre Hand und hielt sie fest, bis das Schluchzen verebbte. Dann stand sie auf, ging zu den Bäumen hinüber und legte sich dort auf den Boden. Ich bin die Nächste, dachte sie. Ich spüre es. Ich bin die Nächste.
Wie sollte sie bloß nach Nowgorod kommen? Als sie am Morgen aufwachte, erblickte sie am anderen Flussufer die deutschen Panzer. Ein Unteroffizier, der neben ihr geschlafen hatte, befahl ihr und ein paar anderen, sofort nach Luga zurückzukehren.
Tatiana nahm ihn beiseite und fragte ihn leise, ob sie stattdessen nicht nach Nowgorod gehen könne. Der Unteroffizier stieß ihr sein Gewehr vor die Brust und schrie: »Hast du den Verstand verloren? Nowgorod ist in deutscher Hand!«
Tatianas Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. »Genossin -wie ist dein Name?«, fragte er ruhiger. »Tatiana Metanowa,«
»Genossin Metanowa, hör mir zu! Du bist zu jung, um hier zu sein. Wie alt bist du, fünfzehn?«
»Siebzehn.«
»Bitte, kehr sofort nach Luga zurück. Von dort aus fahren immer noch Militärzüge nach Leningrad. Bist du aus Leningrad?« »Ja.« Sie wollte vor einem Fremden nicht weinen. »Ganz Nowgorod ist in deutscher Hand?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Was ist denn mit unseren Freiwilligen dort?« »Was interessiert dich Nowgorod!«, fuhr der Unteroffizier sie an. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es gibt keine Sowjets mehr in Nowgorod. Und bald wird es auch keine mehr in Luga geben. Also, verschwinde von hier. Gib mir deinen Pass!« Sie gehorchte.
Als der Mann ihn ihr zurückgab, sagte er: »Geh zurück zu Kirow! Geh nach Hause!«
Aber wie sollte sie ohne Pascha nach Hause zurückkehren? Das konnte Tatiana dem Unteroffizier natürlich nicht erzählen. In Tatianas Gruppe waren neun Personen. Sie war die kleinste und jüngste. Sie brauchten den ganzen Tag für den zwölf Kilometer langen Marsch nach Luga.
Sie erreichten den Bahnhof dort um halb sieben und warteten auf den Zug.
Er kam nicht, doch stattdessen hörte Tatiana gegen sieben Uhr die deutschen Flugzeuge. Die Freiwilligen drängten sich in dem kleinen Bahnhofsgebäude zusammen, das so stabil wirkte, als könne es den Bomben standhalten.
Während des Angriffs jedoch bekam eine Frau solche Angst, dass sie
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