Die Liebenden von Leningrad
ich kein Bett für sie. Morgen früh kümmert sich jemand um sie.«
»Ich werde sie nicht bis morgen früh auf dem Boden liegen lassen.«
»Was wollen Sie eigentlich? Ihre Verletzungen sind weniger schwer als die der anderen.« Michail schüttelte den Kopf. »Sie sollten die anderen Verwundeten erst einmal sehen.« »Ich bin Offizier der Roten Armee, Obergefreiter«, sagte Alexander. »Ich habe schon genügend verwundete Männer gesehen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch irgendwo ein Feldbett für sie haben?«
Michail zuckte mit den Schultern. »Sie hat keine lebensbedrohlichen Verletzungen. Ich werfe doch nicht jemanden mit einer Bauchwunde aus seinem Bett, nur um Platz für diese Frau zu machen.«
»Natürlich nicht«, lenkte Alexander ein. »Ich weiß noch nicht, was wir morgen mit ihr machen«, fuhr Michail fort. »Sie muss in ein Krankenhaus. Ihr Bein muss sofort gerichtet und eingegipst werden und hier können wir das nicht.«
Alexander schüttelte den Kopf. Die Bahngleise waren zerbombt und die Armee hatte ihm seinen Lastwagen weggenommen. »Machen Sie sich wegen morgen keine Gedanken«, sagte er. »Haben Sie noch ein paar Handtücher und Verbandsmull für mich?« Alexander wickelte Tatiana in das Laken und hob sie hoch. »Und noch ein Laken?«
Zögernd trat Michail an seine Sanitätertasche.
»Wie ist es mit Morphium?«
»Nein, Leutnant.« Er lachte. »Ich habe kein Morphium für sie. Nicht für ein Mädchen mit ein paar gebrochenen Knochen. Die Schmerzen wird sie schon ertragen müssen.« Michail gab ihm drei Handtücher und etwas Verbandsmull und Alexander trug Tatiana zu seinem Zelt. Er legte sie hin, zog ihr Hemd über der Brust zusammen und ging zum Fluss, um Wasser zu holen. Als er zurückkam, zerschnitt er ein Handtuch, tauchte einen der Lappen in das kalte Wasser und begann, ihr Gesicht und ihre Haare abzuwaschen. Er säuberte ihre Stirn, ihre Wangen, ihre Augen und ihren Mund. »Tatia«, flüsterte er. »Was bist du nur für ein verrücktes Mädchen!« Sie schlug die Augen auf. Schweigend blickten sie einander an. »Tatia«, flüsterte er noch einmal. Sie hob die Hand zu seinem Gesicht. »Alexander?«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Träume ich?« »Nein«, erwiderte er.
»Ich muss ...« Ihre Stimme erstarb. »Ich habe gerade geträumt ... von deinem Gesicht. Was ist geschehen?« »Du bist in meinem Zelt. Was hast du am Bahnhof in Luga gemacht? Er ist von den Deutschen zerstört worden.« Es dauerte einen Moment, bis Tatiana antwortete. »Ich wollte nach Leningrad zurückfahren, glaube ich. Was machst du denn hier?«
Er hätte lügen können, aber die Wahrheit war viel einfacher. »Ich habe nach dir gesucht.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Was ist geschehen? Warum ist mir so kalt?«
»Es ist nichts«, erwiderte er hastig. »Der Assistent des Sanitäters musste deine Hose aufschneiden und deine ...« Tatiana hob die Hände und fühlte über ihren Körper. Alexander wandte den Blick ab. In Leningrad war es ihm noch gelungen, die Distanz zu wahren, aber nachdem er sie hier in diesem Zustand gefunden hatte, konnte er einfach nicht mehr so tun, als bedeute sie ihm nichts.
Sie hob die Hand vor ihr Gesicht und starrte auf das Blut. »Ist das mein Blut? « »Ich glaube nicht.«
»Was fehlt mir denn? Warum kann ich mich nicht bewegen?« »Deine Rippen sind gebrochen ...« Sie stöhnte. »Und dein Bein.«
»Mein Rücken«, flüsterte sie. »Irgendetwas stimmt mit meinem Rücken nicht.«
Besorgt fragte Alexander: »Was ist los?« »Ich weiß nicht. Er brennt.«
»Das hat wahrscheinlich mit den gebrochenen Rippen zu tun«, erwiderte er. »Ich habe mir letztes Jahr im Winterkrieg auch eine Rippe gebrochen. Es fühlt sich an, als stünde man in Flammen.« »Es blutet.«
Alexander blickte sie scharf an. »Tania, kannst du mich verstehen?« »Hmm.«
»Kannst du dich aufsetzen?«
Tatiana versuchte es. »Nein«, wisperte sie. Mit den Händen hielt sie ihre zerrissene Bluse zusammen.
Alexander half ihr ein wenig hoch. »Ich muss dir die Kleider ausziehen. Sie sind völlig blutdurchtränkt. Du kannst sie nicht anlassen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich muss sie dir ausziehen«, wiederholte er. »Ich will mir deinen Rücken ansehen, und dann wasche ich dich. Du sollst doch keine Infektion bekommen! Ich wasche dir das Blut ab und dann verbinde ich dir die Rippen und das Bein. Danach wird es dir viel besser gehen.« Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Hab keine Angst, Tania«, beruhigte
Weitere Kostenlose Bücher