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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Stil eingeschworen. Jeder Nachbar trug etwas dazu bei, die Standards aufrechtzuerhalten, was schwierig sein musste, weil das französische Ideal nicht so klar umrissen war wie etwa das saubere, satte Grün amerikanischer Rasenflächen, sondern eher etwas von pittoreskem Verfall hatte. Es erforderte Mut, die Dinge so schön verrotten zu lassen.
    Als er sich vom Fenster wieder der Wohnung zuwandte und sich noch einmal im Raum umsah, stellte er etwas Beunruhigendesfest: Es gab keinen Schlafplatz für ihn. Zur Schlafenszeit würden Claire und Larry zusammen in das einzige Bett steigen und es Mitchell überlassen, seinen Schlafsack davor auf dem Fußboden auszurollen. Sie würden das Licht ausknipsen. Und sobald sie glaubten, er sei eingeschlafen, würden sie anfangen herumzumachen, und für die nächste Stunde oder so würde Mitchell gezwungen sein, sich anzuhören, wie sein Freund keine zwei Meter entfernt Sex hatte.
    Er nahm den Feminismus-Sammelband vom Esstisch neben ihm.
    Auf dem nüchternen Umschlag stand ein Regiment von Namen. Julia Kristeva. Hélène Cixous. Kate Millet. Mitchell hatte am College viele Mädchen das Buch lesen sehen, aber nie einen Jungen. Nicht einmal Larry, der klein und sensibel war und auf alles Französische flog, hatte es gelesen.
    Plötzlich rief Claire enthusiastisch: «Ich liebe dieses Buch!»
    Sie kam strahlend aus der Küche und nahm es ihm aus der Hand. «Hast du es gelesen?»
    «Ich wollte es mir gerade anschauen.»
    «Ich lese es für so ein Seminar, an dem ich teilnehme. Eben bin ich mit diesem Essay von Kristeva durch.» Sie schlug das Buch auf und blätterte darin. Das Haar fiel ihr ins Gesicht; ungeduldig warf sie es zurück. «Ich habe eine Menge über den Körper gelesen, darüber, dass der Körper schon immer mit Weiblichkeit assoziiert wurde. Da ist es doch wirklich interessant, dass unsere westlichen Religionen den Körper von jeher für sündig erklärt haben. Du sollst dein Fleisch abtöten und den Körper überwinden. Aber Kristeva sagt, wir müssen den Körper ganz neu betrachten, besonders den mütterlichen Körper. Im Prinzip ist sie Lacanianerin, aber sie stimmt nicht damit überein, dass Bedeutung undSprache von Kastrationsängsten herstammen. Sonst wären wir ja alle psychotisch.»
    Wie Larry war Claire blond, blauäugig und jüdisch. Doch im Gegensatz zu Larrys weltlichen Eltern, die nicht einmal an hohen Festtagen in die Synagoge gingen, aber Seder-Essen abhielten, bei denen das Afikoman kein Stück Matze, sondern ein Twinkie war (vor Jahren einmal ein kindischer Unfug, der sich perverserweise zu einer eigenen Tradition ausgewachsen hatte), waren Claires Eltern orthodoxe Juden, die nach dem Buchstaben des Gesetzes lebten. In ihrem Mammuthaus in Scarsdale gab es nicht bloß zwei Sorten Geschirr fürs koschere Essen, sondern zwei getrennte Küchen. Es gab Samstage, an denen das Dienstmädchen vergessen hatte, das Licht brennen zu lassen, und die Familie Schwartz folglich im Dunkeln hauste. Einmal musste Claires jüngerer Bruder mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden (der Weisheit des Talmuds zufolge heben medizinische Notfälle das Verbot auf, am Sabbat Auto zu fahren). Trotzdem weigerten sich Mr. und Mrs.   Schwartz, ihren sich vor Schmerzen windenden Sohn im Krankenwagen zu begleiten, und machten sich stattdessen, halb wahnsinnig vor Angst, zu Fuß auf den Weg ins Hospital.
    «Das Entscheidende an der Sache mit dem Juden- und Christentum», sagte Claire, «und überhaupt an jeder monotheistischen Religion ist doch, dass sie alle patriarchalisch sind. Männer haben diese Religionen erfunden. Also ratet mal, was Gott ist? Ein Mann.»
    «Pass auf, Claire», sagte Larry, «Mitchell hat Religionswissenschaft studiert.»
    Claire verzog das Gesicht und sagte: «O Gott.»
    «Ich werde dir erzählen, was ich in Religionswissenschaft gelernt habe», sagte Mitchell mit dem Anflug eines Lächelns.«Wenn du die Mystiker liest, egal, wen oder was auch immer an vernünftiger Theologie – katholisch, protestantisch, kabbalistisch   –, in einem Punkt stimmen sie alle überein: dass Gott sich jeder menschlichen Vorstellung, jeder Kategorie entzieht. Deshalb bleibt es Moses verwehrt, Jahwe zu sehen. Deshalb darf man im Judentum den Namen Gottes nicht einmal ausbuchstabieren. Der menschliche Verstand kann sich keinen Begriff davon machen, was Gott ist. Gott hat kein Geschlecht oder sonst etwas.»
    «Und weshalb ist er dann in der Sixtinischen Kapelle ein Mann mit einem

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