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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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bemerken.
    Es sollte ewig dauern, bis Mitchell eine Art Verständnis für die städtebauliche Anlage von Paris aufbrachte, ewig, bis er das Wort
arrondissement
gebrauchen, geschweige denn begreifen konnte, dass die nummerierten Viertel spiralförmig angeordnet waren. Er war an gerasterte Städte gewöhnt. Dass das Erste Arrondissement an das Dreizehnte grenzen würde, wenn nicht das Vierte oder Fünfte dazwischen läge, war ihm schlichtweg unvorstellbar.
    Claire jedoch wohnte nicht weit vom Eiffelturm entfernt, und später rechnete Mitchell sich aus, dass ihre Wohnung, sicherlich sehr teuer, im mondänen Siebten gelegen haben musste.
    Die Straße, als sie endlich hingefunden hatten, war ein kopfsteingepflastertes Relikt aus dem mittelalterlichen Paris. Auf dem schmalen Gehsteig gab es kein Durchkommen mit klobigen Rucksäcken, weshalb sie, an den Spielzeugautos vorbei, notgedrungen auf der Straße gingen.
    Auf der Klingel stand der Name «Thierry». Larry drückte. Nach einer endlosen Verzögerung summte der Öffner. Mitchell, der sich an die Tür gelehnt hatte, stolperte in den Hausflur.
    «Zu viel gelaufen?», sagte Larry.
    Mitchell, wieder auf den Beinen, trat höflich beiseite, empfing Larry aber dann mit einem Hüftstoß, der ihn die Eingangsstufen wieder hinunterbeförderte, und ging als Erster hinein.
    «Leck mich, Mitchell», sagte Larry in einem fast liebevollen Ton.
    Wie Schnecken, die ihre Häuser mit sich herumschleppen, krochen sie die Treppe hoch. Es wurde dunkler, je höhersie stiegen. Im fünften Stock warteten sie in beinahe totaler Finsternis, bis sich an einem Ende eine Tür öffnete und Claire Schwartz in den Lichtrahmen trat.
    Sie hielt ein Buch in der Hand und machte eher den Eindruck einer vorübergehend abgelenkten Bibliotheksbenutzerin als den einer jungen Frau, die der Ankunft ihres Freundes von der anderen Seite des Atlantiks entgegenfiebert. Langes, honigfarbenes Haar hing ihr übers Gesicht, aber sie strich es mit der Hand zurück und steckte einen Teil hinter das rechte Ohr. Das schien ihre Miene wieder für Gefühle empfänglich zu machen. Sie lächelte und rief: «Hi, Schatz!»
    «Hi, Schatz», erwiderte Larry und eilte zu ihr.
    Claire war zehn Zentimeter größer als Larry. Bei der Umarmung beugte sie die Knie. Mitchell hielt sich im Halbdunkel, bis sie fertig waren.
    Schließlich bemerkte Claire ihn und sagte: «Oh, hallo. Komm doch rein.»
    Claire, zwei Jahre jünger als sie, war erst im zweiten Collegejahr. Larry hatte sie bei einem Sommer-Theater-Workshop an der SUNY kennengelernt – er spielte Theater, sie studierte Französisch   –, und Mitchell sah sie zum ersten Mal. Sie trug eine Bauernbluse, Jeans und lange, feinteilige Ohrringe, wie Miniatur-Windspiele. Ihre regenbogenfarbenen Socken hatten einzelne Zehen. Auf dem Buch in ihrer Hand stand
New French Feminisms.
    Obwohl Claire als Gasthörerin an der Sorbonne eine Vorlesung besuchte, die von Luce Irigaray gehalten wurde und den Titel «Die Mutter-Tochter-Beziehung: Der dunkelste aller dunklen Kontinente» trug, war sie dem mütterlichen Beispiel gefolgt und hatte Gästehandtücher hingelegt. Ihre untergemietete Wohnung war nicht die für Gaststudenten übliche
chambre de bonne
mit Klappbett und Gemeinschafts-WCauf dem Flur. Sie war geschmackvoll eingerichtet, mit gerahmten Gemälden, Esstisch und einem Kelim. Nachdem Mitchell und Larry ihre Rucksäcke abgesetzt hatten, fragte Claire, ob sie einen Kaffee wollten.
    «Unbedingt, ich brauche dringend einen», sagte Larry.
    «Ich mache ihn mit einer echten Cafetiere
»
, sagte Claire.
    «Phantastisch», sagte Larry.
    Kaum hatte Claire ihr Buch beiseitegelegt und war in der Küche verschwunden, warf Mitchell Larry einen Blick zu. «Hi,
Schatz
?», flüsterte er.
    Larry blickte ungerührt zurück.
    Es war schmerzlich klar, dass Claire, wäre Mitchell nicht da gewesen, keinen Kaffee gekocht hätte. Wären Larry und Claire allein gewesen, hätten sie jetzt schon Wiedersehenssex gehabt. Unter anderen Umständen hätte Mitchell sich aus dem Staub gemacht. Aber er kannte niemanden in Paris und wusste nicht, wohin er gehen sollte.
    Er tat, was ihm als das Nächstbeste erschien, drehte sich um und starrte aus dem Fenster.
    Das verbesserte für einen Augenblick seine Lage. Aus dem Fenster sah man taubengraue Dächer und Balkone, einer wie der andere mit dem gleichen rissigen Blumentopf und einer schlafenden Katze. Es war, als hätte die ganze Stadt sich auf ein und denselben dezenten

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