Die Liebeshandlung
langen weißen Bart?»
«Weil die Massen das mögen.»
«Die Massen?»
«Manche Menschen brauchen einfach ein Bild. Jede große Religion muss offen sein. Und um offen zu sein, muss man sich auf unterschiedliche Abstraktionsgrade einstellen.»
«Du redest genau wie mein Vater. Jedes Mal, wenn ich ihm sage, wie sexistisch das Judentum ist, sagt er mir, das sei Tradition. Und weil es Tradition sei, sei es gut. Damit müsse man nun einmal leben.»
«Das sage ich ja gar nicht. Ich sage nur, dass es Menschen gibt, für die Traditionen gut sind. Für andere sind sie nicht so wichtig. Manche glauben, dass Gott sich in der Geschichte offenbart, andere glauben an eine fortschreitende Offenbarung, daran, dass die Regeln oder Auslegungen sich vielleicht mit der Zeit verändern.»
«Die ganze Offenbarung ist ein einziger teleologischer Betrug.»
Damals in Scarsdale, als Claire ihrem Vater in dem mit Chagalls ausstaffierten Wohnzimmer entgegentrat, hatte sie zweifellos genauso dagestanden wie jetzt: die Füße breitbeinig auf den Boden gestemmt, beide Hände in den Hüften,den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Obwohl Mitchell sich über sie ärgerte, war er doch – genau wie Mr. Schwartz es im Streit mit ihr gewesen sein musste – auch beeindruckt von ihrer Willenskraft.
Er merkte, dass sie auf seine Antwort wartete, und so sagte er: «Betrug, weshalb?»
«Die Idee, Gott würde sich in der Geschichte offenbaren, ist absurd. Die Juden bauen einen Tempel. Dann wird der Tempel zerstört. Also müssen sie ihn wiederaufbauen, damit der Messias erscheinen kann? Die Vorstellung, Gott würde nur darauf warten, dass irgendwas passiert – als würde es ‹Ihn›, wenn es denn so etwas wie Gott
gäbe
, einen Dreck interessieren, was die Menschen machen –, ist total anthropozentrisch und so unglaublich, einfach unglaublich männlich! Bevor die patriarchalen Religionen erfunden wurden, haben die Völker Göttinnen verehrt. So war es bei den Babyloniern, so war es bei den Etruskern. Die Religion der Göttin war organisch und umweltfreundlich. Sie folgte dem Zyklus der Natur – im Gegensatz zum Juden- und Christentum, denen es nur darum geht, anderen ihr Gesetz aufzuzwingen und das Land zu vergewaltigen.»
Mitchell schielte zu Larry hinüber und sah ihn zustimmend nicken. Mitchell hätte vielleicht auch genickt, wenn er Claires Freund gewesen wäre, aber Larry schien ernsthaft an der Göttin der Babylonier interessiert.
«Wenn dir die Vorstellung von einem männlichen Gott nicht passt», sagte Mitchell zu Claire, «warum ersetzt du ihn dann durch einen weiblichen? Warum räumst du nicht mit der ganzen Idee einer geschlechtlichen Gottheit auf?»
«Weil sie geschlechtlich
ist.
Sie
ist
es. Schon lange. Weißt du, was eine Mikwe ist?» Sie wandte sich an Larry. «Weiß er, was eine Mikwe ist?»
«Ich weiß es», sagte Mitchell.
«Okay, also, meine Mom geht jeden Monat nach ihrer Menstruation in eine Mikwe, ja? Um sich zu reinigen. Um sich von was zu reinigen? Von ihrer Fähigkeit zu gebären? Leben zu erzeugen? Da wird die größte Fähigkeit, die eine Frau besitzt, in etwas verkehrt, dessen sie sich schämen soll.»
«Du hast recht, das ist absurd.»
«Aber es geht nicht nur um die Mikwe. Bei dem ganzen institutionellen Überbau der westlichen Religionen geht es darum, den Frauen zu predigen, sie seien minderwertig, unrein und den Männern untertan. Und wenn du tatsächlich irgendwas von diesem Schwachsinn glaubst, weiß ich wahrhaftig nicht, was ich sagen soll.»
«Du hast aber nicht gerade deine Menstruation, oder?», sagte Mitchell.
Claires ausdrucksvolles Gesicht wurde leer. «Ich fass es nicht, was du da eben gesagt hast.»
«Ich hab nur Spaß gemacht», sagte Mitchell. Ihm glühte plötzlich das Gesicht.
«So was Sexistisches.»
«Ich habe
Spaß
gemacht», wiederholte er gepresst.
«Du musst dich erst ein bisschen an Mitchell gewöhnen», sagte Larry, «er ist was für Kenner.»
«Ich stimme ja vollkommen mit dir überein!», versuchte Mitchell es bei Claire noch einmal, aber je mehr er protestierte, desto unglaubwürdiger klang er, und schließlich hielt er den Mund.
Der Tag hatte auch eine schöne Seite: Da es Larry und Mitchell immer noch wie mitten in der Nacht vorkam, gab es keinen Grund, nicht sofort mit dem Trinken anzufangen. Am frühen Nachmittag waren sie im Jardin du Luxembourg und leerten gemeinsam eine Flasche
vin de table
. Der Himmelhatte sich bewölkt, überzog die Blumen und die gelben
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