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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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hatten Larrys Eltern, Harvey und Moira Pleshette, hohe kulturelle Ansprüche. Moira leitete das Programm für visuelle Kunst in den Gärten von Wave Hill. Harvey saß im Verwaltungsrat des New York City Ballet und des Dance Theatre von Harlem. Während des Kalten Krieges war Irina Kolnoskowa, die Zweite Ballerina des Kirow-Balletts, nachdem sie sich abgesetzt hatte, im Haus der Pleshettes in Riverdale untergeschlüpft. Larry, der damals erst fünfzehn gewesen war, hatte ihr Champagner-Piccolos und Graham-Cracker ans Bett gebracht, in dem sie abwechselnd weinte, sich Spielshows ansah oder ihn überredete, ihre jungen, spektakulär deformierten Füße zu massieren. Für Mitchell waren Larrys Geschichten von feuchtfröhlichenSchlusspartys, die bei ihnen zu Hause gefeiert wurden – wie er im Flur des ersten Stockwerks Leonard Bernstein beim Fummeln mit einem Tänzer erwischt oder wie Ben Vereen auf der Hochzeit von Larrys älterer Schwester ein Lied aus
Pippin
gesungen hatte   –, genauso faszinierend, wie es Berichte von einer Begegnung mit Joe Montana oder Larry Bird für einen andersgearteten Jungen gewesen wären. Im Kühlschrank der Pleshettes war Mitchell zum ersten Mal auf Gourmet-Eis gestoßen. Er erinnerte sich noch genau an die Erregung: Wie er eines Morgens in die Küche heruntergekommen war, durch deren Fenster man den majestätischen Hudson sah, und beim Öffnen des Gefrierfachs den kleinen runden Becher Eis mit einem fremden, exotischen Namen erblickt hatte. Keine Großpackung für Unersättliche, wie es sie bei Mitchells Eltern in Michigan gab, kein billiges
Milch eis
, nicht Vanille, Schokolade oder Erdbeer, sondern ein Geschmack, den er sich nie hatte träumen lassen, mit einem Namen, der genauso lyrisch war wie die Berryman-Gedichte, die er für seinen Kurs über amerikanische Dichtung las: Rum-Traube. Ein Eis, das auch ein Getränk war! In einem kostbaren, winzigen Behälter. Sechs davon aufgereiht neben sechs Päckchen Zabar’s-Kaffee, dunkle französische Röstung. Was
war
Zabar’s? Wie kam man dorthin? Was war
Lox
? Weshalb war er orange? Aßen die Pleshettes wirklich Fisch zum Frühstück? Wer war Djagilew? Was war eine Gouache, was Pentimenti, Rugelach?
Bitte sag es mir,
stand Mitchell während seiner Besuche wie ein stummes Flehen ins Gesicht geschrieben. Besuche in New York, der großartigsten Stadt der Welt. Er wollte alles wissen, und Larry war derjenige, der es ihm beibringen konnte.
    Moira bezahlte nie ihre Parkknöllchen, verstaute sie einfach im Handschuhfach. Als Harvey das herausfand, schrie ersie beim Abendessen an: «Das ist haushaltspolitisch unverantwortlich!» Die Pleshettes machten eine Familientherapie, gingen einmal in der Woche alle sechs zu einem Shrink in Manhattan, um ihre Konflikte auszutragen. Genau wie Mitchells Vater hatte Harvey im Zweiten Weltkrieg gedient. Er trug Khakianzüge und Fliegen, rauchte dominikanische Zigarren und war in jeder Hinsicht ein Mitglied der superselbstbewussten, superlebenserfahrenen Generation der Kriegsteilnehmer. Trotzdem legte er sich einmal in der Woche auf eine Matte auf dem Fußboden einer psychologischen Praxis und hörte sich klaglos an, wie seine Kinder ihn lauthals beschimpften. Die Bodenmatte untergrub die Hierarchie. In Rückenlage waren alle Pleshettes gleich. Nur der Therapeut herrschte oben, auf der Höhe seines Eames Chair.
    Am Ende des Krieges war Harvey mit der amerikanischen Armee in Paris gewesen. Es war eine Zeit, von der er gern erzählte, mit überschwänglichen Erinnerungen an
les femmes parisiennes
, bei denen Moira oft einen verkniffenen Ausdruck bekam. «Ich war zweiundzwanzig und Leutnant der amerikanischen Armee. Über alles konnten wir frei verfügen. Wir hatten Paris befreit, und es gehörte uns! Ich hatte einen Wagen mit Chauffeur. Wir drehten Runden auf den großen Avenuen und verteilten Strümpfe oder Schokolade. Mehr brauchte es nicht.» Alle vier oder fünf Jahre unternahmen die Pleshettes eine Reise nach Frankreich, um die väterlichen Kriegsschauplätze zu besuchen. Indem Larry jetzt im gleichen Alter nach Paris kam, wiederholte er gewissermaßen die Jugend seines Vaters, damals, als Paris den Amerikanern zu Füßen lag.
    Das war nicht mehr der Fall. Nichts Amerikanisches, als sie die Avenue entlangtrotteten. Weiter vorn, auf einer Reklametafel, wurde ein Film mit dem Titel
Beau-père
angekündigt;das Plakat zeigte einen barbusigen Teenager auf dem Schoß seines Vaters. Larry ging vorbei, ohne es zu

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