Die Liebeslotterie
Bürgermeister mitüber den Arm gelegter Serviette, um die Bestellung aufzunehmen. Aber plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne, angewurzelt durch ein Morsezeichen von Cesares Augenbraue, und dann, oh Wunder, verließ der Padrone höchstpersönlich seinen Platz hinter der Kaffeeorgel und fragte: «Was darf ich Ihnen bringen, Herr Bürgermeister?»
Tibo streckte die Hand aus, Cesare drückte sie, und die Blicke der Männer verschmolzen sekundenlang, bis Tibo sagte: «Das Übliche bitte, Herr Cesare.»
Cesare ließ die Finger über dem Kopf schnippen wie Kastagnetten, und ohne Tibos Hand loszulassen, rief er: «Das Übliche für meinen Freund, den Bürgermeister Krovic.» Und dann fügte er in vertraulichem Tonfall hinzu: «Wie steht’s?»
«Hundertmal schlimmer», sagte Tibo, «und viel, viel besser.»
Cesare sagte: «Ein guter Freund hat einmal zu mir gesagt, es gebe in der Welt nicht genug Liebe, um auch nur einen Tropfen davon zu vergeuden, egal, wo wir sie finden. Ihr Kaffee ist da.»
Cesare nahm die Tasse aus den Händen des Kellners, der nervös hinter ihm gewartet hatte, und stellte sie vorsichtig vor Tibo auf den Tisch. «Geht aufs Haus», sagte er, «bitte sehr.» Und damit verzog er sich wieder hinter die Kaffeeorgel.
Als Tibo wenige Minuten später seine Tasse geleert hatte und wieder auf die Schlossstraße trat, verabschiedete Cesare ihn mit einem knappen Nicken. Alles, was gesagt werden musste, war gesagt worden, und es gab nichts mehr hinzuzufügen.
Die Schlossstraße, der Goldene Engel, die Weiße Brücke, der Rathausplatz – alles hatte eine neue Farbe angenommen, so als sehe Tibo es zum ersten Mal, zum letzten Mal, und alser in sein Büro kam, fand er den Brief auf seinem Schreibtisch. Er war nicht unterschrieben, aber Tibo erkannte die weiten Bögen und die verschnörkelte Schrift. Er hatte sie erst einen Tag zuvor auf einem Stück städtischen Briefpapiers gesehen. Er las: «Angesichts der letzten, recht turbulenten Tage sollten Sie vielleicht eine kurze Erholungsreise nach Dash antreten. Informieren Sie jeden, der informiert werden muss. Überlassen Sie die Planung mir. Bis heute Abend.»
Turbulent. Hübsches Wort. Tibo legte es sich versuchshalber auf die Zunge: «Turbulent. Turbulent», und entdeckte, dass es nach einem großen Karpfen schmeckte, der still und langsam in einem dunkelgrünen See zu Boden sinkt.
Tibo holte sich einen zweiten Briefbogen von Agathes Schreibtisch und schrieb eine Nachricht für den Stadtschreiber. «Lieber Gorvic, fühle mich nicht besonders. Brauche einen Tapetenwechsel und werde ein paar Tage in Dash verbringen.» Stolz betrachtete Tibo seine Zeilen. Zum ersten Mal hatte er ganz offiziell gelogen.
Später, als er die Post erledigt und «die kostengünstigste Lösung ist nicht immer die beste» quer über einen Antrag der Gartenbauabteilung gekritzelt hatte, bemerkte Tibo, dass er fast nichts mehr zu tun hatte. Eine halbe Stunde lang fragte er sich, was er sonst immer zu tun gehabt hatte, dann füllte er sich die Taschen mit Ingwerkeksen aus der Blechdose neben der Kaffeemaschine und ging kauend nach Hause.
AGATHE WAR IM GARTEN. Der Wind hatte nach Südwest gedreht, und die Kühle der vergangenen Wochen hatte sich verzogen. Ganz Dot badete im Sonnenschein und genoss den Altweibersommer, an dessen Ende die Feuerwehrkapelle Zimbeln und Tubas einpacken und die Gänse auf dem Ampersand in den Wind schnüffeln, den Kopf nach Süden drehen und dem Winter davonfliegen würden.
Agathe hatte den Vormittag im rundlichen Schatten eines riesigen Cotoneasterbusches verbracht. Das Sonnenlicht fiel durch die Blätter und zeichnete dunkle Schattenpunkte auf ihre Haut, sie zuckte mit den Ohren, um eine winzige Fliege zu vertreiben. Es gab nichts zu sehen. Das gefiel ihr. Es gefiel ihr, in Bodennähe versteckt zu liegen, außer Sicht und in Sicherheit. Sie freute sich darüber, sich keine Gedanken um die Wäsche mehr machen zu müssen und ob die Jungs in der Kanalstraße einen schmutzigen Fußball hineinschossen. Sie brauchte nicht mehr auf ihre Geldbörse aufzupassen. Sie besaß keine Geldbörse mehr, ja, sie besaß nicht einmal mehr eine Tasche, in die sie eine Geldbörse hätte stecken können. Aber sie hatte genug zu essen, sie wurde geliebt, und sie hatte keine Angst mehr.
Während sie so im Schatten lag und sich an der Wärme und dem grünen Schimmer ergötzte, der aus dem Rasen aufstieg, dachte Agathe: Wie schön. Sie streckte sich, rollte sich auf
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