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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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bescheiden hinzu. Aber tatsächlich, auf einem Reiskorn waren ganz deutlich die ersten Verse eines merkwürdigen Gedichts zu lesen: «‹Welch Ort für den Schnark!›, rief der Ausrufer da.» Selbst die Zeichensetzung stimmte.
    Erstaunlich. Tibo schaute an der Lupe vorbei. Ohne das Glas konnte er kaum die Tintenstriche auf dem Reiskorn erkennen.
    «Einmal hatte ich es sogar bis zum ‹Und vergib uns unsere› des Vaterunsers geschafft, aber dann ging mir der Reis aus. Ich werde es noch einmal versuchen. Für die Anhänger meines albernen Steckenpferds ist das eine Art Standardtext. Ich verstehe nicht, warum. Oder warum es ein ganzer Text sein muss. Warum trägt man nicht angefangene Sätze in einer Hosentasche voller Körner mit sich herum? Gedichte in kleinen Häppchen? Ein Risotto aus Liebesbriefen, eine Paella aus Sagen, ein Sonett-Pilaw und eine bunte Jambalaya aus Lexikoneinträgen? Alles ist klein – außer die Gedanken. Klein. Ich glaube, das gefällt mir so daran. Ich kaufe eine Packung Reis und schütte sie auf den Tisch und suche nach jenem Korn, das die Grenzen des gewöhnlichen Reisseins sprengt und sich ein Stückchen weiter ausdehnt als normal, sodass Platz übrig ist für einen weiteren Gedanken. Aber ich kann es nicht finden. Die Natur ist bemerkenswert gleichförmig. Alles hat seine Grenzen, die Kieselalge ebenso wie der Blauwal. Alles außer mir. Ich überschreite alle natürlichen Grenzen. Verzeihung, ich muss mich setzen.»
    Eilig stand Tibo auf und half Yemko auf den Stuhl. Yemko ließ sich mit einem erschöpften Seufzer daraufsinken.
    «Denken Sie nur, zu welchem Preis und unter welchen Mühen diese Körner entstehen. Wie viele Arbeitsstunden in einem überfluteten Reisfeld, das vor Mücken nur so brummt, der schwere, schlürfende Pflug hinter dem Büffel, sein zuckender Schwanz, die brennende Sonne, die Blutegel, die anstrengende, gebeugte Haltung, Hunderttausende Male wiederholt und alles nur dafür.» Er stieß ein paar Reiskörner mit dem Finger an.
    «Und wenn es dann einmal um die halbe Welt gereist ist, um in der Lebensmittelabteilung vom Kaufhaus Braun zu landen, wird es für ein paar Kröten verkauft. So billig ist Menschenschweiß. Und schauen Sie nur, wie weiß es ist – es steht für die Farbe Weiß und ist dennoch alles andere als das. Sehen Sie sich dieses hier an.» Yemko hob ein einzelnes Korn in die Höhe. «Perlgrau. Einige sind fast durchsichtig, so wie geschliffenes Glas, und einige andere haben einen tiefweißen Kern – sehen Sie? Das erinnert mich an die Harzklumpen mit den eingeschlossenen Insekten, die manchmal an unsere Strände gespült werden, nur dass es sich hier um eine in Eis eingeschlossene Schneeflocke handelt. Warum nur? Was hat bloß dazu geführt? Ich finde, man sollte ein Buch über den Reis schreiben. Es versteckt sich noch in irgendeiner Schreibmaschine. Nicht in meiner, wie ich fürchte. Hinter mir vernehme ich ständig den geflügelten Wagen der Zeit. In dem Buch fände sogar ein Kapitel über das ekelhafte, billige, gelbe Langkorn aus Amerika Platz, und vielleicht auch eines über Arborio, ein weitschweifiger Exkurs, der dem langsam mäandernden Po folgt und über die malariaverseuchten Sümpfe hinter Turin dahinfliegt wie eine Mücke über einen Teich, nur, um in einer Pfütze aus tintenfischblauem Risotto zu enden. Außerdem müsste es Seiten über Seiten zum Thema Basmatigeben. Wissen Sie, der Basmati ist der Prinz unter den Reissorten. Dieses duftende, würzige, fast blumige Aroma. Basmati könnte ich pur essen, einfach so, nur mit ein bisschen Salz. Vermutlich tun das Tausende von Menschen täglich. Nein, Millionen!
    Viele weitere Millionen begnügen sich mit weniger oder gar nichts. Die Inder haben ein Sprichwort. Sie sagen, die Reiskörner sollten sich verhalten wie Brüder – dicht beieinander, ohne aneinanderzukleben. Für jene, die meiner Berufung folgen, ist Basmati die erste Wahl. Das liegt an den abgeflachten Körnern, wissen Sie. Ihre Oberfläche ist ideal, um darauf zu schreiben. Und gleichmäßig, so gleichmäßig wie nur irgendetwas in der freien Natur, und doch verschieden. Kein Korn gleicht dem anderen. So wie wir, Bürgermeister Krovic. So wie wir, die Einwohner von Dot, die Ihnen so am Herzen liegen. Jeder von uns ist anders, ein bisschen angeschlagen, ein bisschen rundlich oder deformiert. Vielleicht auch Sie, der gute Tibo Krovic. Sind Sie aus diesem Grund mitten in der Nacht in mein Haus gekommen?»
    Tibo sagte: «Vor langer

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