Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
veränderte sich nicht, und er hielt die Hand weiterhin in Richtung des Bettes ausgestreckt. Langsam ergriff Gair sie.
»Gair.«
»Kein Familienname?«
»Keine Familie.«
»Die Freunde eines Mannes sind die bestmögliche Familie, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Wenigstens kann er sie sich selbst aussuchen.« Der Stuhl knarrte, als Alderan aufstand. »Ruh dich noch ein bisschen aus, damit das Athalin wirken kann. Wir werden uns weiter unterhalten, wenn du dich besser fühlst. Morgen bleibt noch genug Zeit dafür.«
Bis zur Abenddämmerung musst du die Auflage erfüllt haben . »Wie spät ist es?«
»Drei Stunden nach Mittag. Du hast das Hochgeläut verschlafen.«
Angst griff mit eisigen Klauen nach Gairs Rücken. »Ich muss bei Einbruch der Dämmerung aus dem Pfarrbezirk verschwunden sein.«
»Bis dahin ist noch genug Zeit.«
»Ihr versteht nicht. Ich muss sofort gehen.«
Er schwang die Beine über den Rand des Bettes und setzte sich auf, aber das war ein Fehler. Der Raum schwankte um ihn herum. Doch die Zeit verstrich – Zeit, die er nicht verschwenden durfte. Gelbe Blitze erhellten das dumpf pochende Rot hinter seinen Augenlidern, aber er biss die Zähne zusammen und versuchte aufzustehen.
Alderan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Warte.«
»Ich bin froh über das, was Ihr für mich getan habt, aber jetzt muss ich mich auf den Weg machen.«
Die Hand drückte zu. »Warte noch ein wenig.«
»Verdammt, Alderan, ich muss los!« Gair versuchte aufzustehen, aber Alderan hielt ihn mit erschütternd geringer Mühe zurück. Eigentlich sollte Gair in der Lage sein, diesen alten Mann umzuwerfen, aber es gelang ihm nicht einmal, sich vom Bett zu erheben. Frustriert trat er aus.
Alderan trat so geschmeidig wie ein Tänzer zur Seite. »Bei den goldenen Äpfeln der Göttin, Junge!«, rief er. »Musst du es mir unbedingt so schwer machen?«
Die Kraft floss aus Gair ab wie Wasser aus einem durchlöcherten Eimer, und er sackte auf die Kissen zurück. In seinem Kopf pochte es. Wellen der Übelkeit schwollen in ihm an, verebbten wieder und hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in seiner Kehle.
Der alte Mann seufzte auf, wobei sich die Spitzen seines Bartes bewegten, und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. »Erlaube mir, dir zu helfen. Ich habe noch ein zweites Pferd im Stall, wir können lange vor Einbruch der Dämmerung hinter der Grenze sein, ohne dass es jemand bemerkt. Wenn du zu Fuß gehst, wirst du es niemals rechtzeitig schaffen. Dafür haben die Marschälle gesorgt, indem sie dich gründlich zusammengeschlagen haben. Außerdem musst du baden und dich rasieren, und du hast nichts zum Anziehen. Wir können gern deswegen miteinander kämpfen, wenn du willst, oder du bleibst ganz ruhig und nimmst Vernunft an. Also, was wirst du tun?«
»Ihr bringt Euch bloß in Schwierigkeiten. Ich kann mir ein Pferd besorgen, wenn ich eins brauche.«
»Indem du eins stiehlst? Und was ist mit der Kleidung? Willst du die etwa auch stehlen?«
»Wenn es sein muss.«
Alderan schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Du hast nicht die Zeit und, wie ich zu sagen wage, auch nicht die Veranlagung dazu, in der Stadt herumzuschleichen und all das zu stehlen, was du brauchst.« Die Runzeln um seine Augen glätteten sich ein wenig, und seine Stimme wurde sanfter. »Wirklich, Gair, ich will dir nichts Böses. Bitte vertraue mir.«
Wenn er sich bloß nicht so hilflos fühlen würde! Er musste aufbrechen, musste die Stadt sofort verlassen, aber er konnte sich kaum bewegen. Das Bett war bequem, die Laken fühlten sich weich auf seiner Haut an, und sein geschundener Körper wollte sich in ihnen zusammenrollen und schlafen. Bei allen Heiligen, ja, schlafen! Es war so lange her. Die Augen fielen ihm schon vor Müdigkeit zu. »Ich muss weg von hier.«
»Dann lass wenigstens zu, dass ich dir helfe.«
»Wenn sie mich wieder erwischen, werden sie mich bestimmt verbrennen.«
»Wir müssen bloß dafür sorgen, dass wir ihnen immer ein paar Schritte voraus sind«, sagte Alderan leichthin. »Nur damit das ein für alle Mal klar ist: Ich glaube nicht, dass du ein Hexer bist. Ich sehe in dir lediglich einen jungen Mann, der in großen Schwierigkeiten steckt, und ich bin in der Lage, dir zu helfen. Ob du willst, dass ich es tue, ist deine Sache. Du kannst sofort gehen, aber glaube mir, deine Aussichten sind schlechter als schlecht. Wenn die Ritter dich nicht erwischen, werden es die Bewohner der Stadt tun.«
Nach zehn Jahren in Dremen
Weitere Kostenlose Bücher